Theoretisch läuft beim Arztgespräch das Taxameter. Für jeweils vollendete zehn Minuten kann der Mediziner brutto 14,06 Euro einstreichen, was einem Stundensatz von 84,36 Euro entspricht. Das liegt kalkulatorisch etwas höher als die Summe, die Dachdecker- oder Klempnermeister für ihre Arbeitszeit auf die Rechnungen schreiben. „Aber so ist das natürlich eine Milchmädchenrechnung“, sagt Hans Michael Mühlenfeld, Vorsitzender des Bremer Hausärzteverbandes. In der Praxis könne nämlich kaum ein Arzt ausführliche Gespräche mit seinen Patienten führen und abrechnen. „Dazu gibt es zu viele einschränkende Rahmenbedingungen in der Gebührenordnung.“
Was die Fachleuchte als „Sprechende Medizin“ bezeichnen ist auch laut Hans-Werner Bertelsen „einfach zu schlecht bezahlt.“ Der Bremer Zahnarzt gehört dem sogenannten Münsteraner Kreis an, einem Zusammenschluss von Medizinern und anderen Wissenschaftlern, der sich 2016 an der Universität Münster gründete. Das erklärte Ziel der Gruppe ist der Kampf gegen die sogenannte alternative Medizin, die einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht standhält. Insbesondere die Homöopathie war dem Münsteraner Kreis bislang zahlreiche kritische Veröffentlichungen wert. Dass die Bremer Ärztekammer und im Nachgang auch die Ärztegremien in Nordrhein-Westfalen, Hessen, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Niedersachsen die Homöopathie aus ihren Weiterbildungsordnungen getilgt haben, ist ein Ergebnis der Arbeit des Münsteraner Kreises.
Gleichwohl werden homöopathische Behandlungen weiterhin von zahlreichen Patienten nachgefragt und auch einige Krankenkassen bezahlen entsprechende Leistungen aus den Mitteln der gesetzlichen Krankenversicherung, darunter die AOK Bremen und auch die Handelskrankenkasse (HKK). AOK-Sprecher Jörn Hons betont aber, dass nur die ärztliche Leistung honoriert wird. Homöopathische Mittel, deren Wirksamkeit nach dem Stand der Wissenschaft nicht über den Placebo-Effekt hinausgehe, würden nicht bezahlt.
Doch für Bertelsen sind die Ärztehonorare für die sogenannte Erstanamnese Teil des Problems. „Die Homöopathie ist für Patienten auch deswegen attraktiv, weil sich Arzt oder Heilpraktiker sehr viel Zeit für den Patienten nehmen.“ Diese Zeit werde im Vergleich zum nicht-homöopathischen Arztgespräch zudem sehr viel besser bezahlt und zwar vom Geld der gesetzlich Versicherten. Homöopathie sei für viele Ärzte darum äußerst lukrativ. „Es kann aber nicht sein, dass ich dem zweifellos wichtigen Gespräch mit dem Patienten ein esoterisches Mäntelchen umhängen muss, um eine angemessene Vergütung zu erzielen.“ Für Bertelsen produziert das System hier Fehlanreize. Er fordert darum eine klare finanzielle Aufwertung der sprechenden Medizin, insbesondere für Patienten mit Tumorerkrankungen, möglichen Depressionen oder mehreren parallelen Erkrankungen. „Diese Betroffenen haben wirklich Gesprächsbedarf und sollten nicht nach wenigen Minuten mit einem Rezept abgefertigt werden.“
700 Euro je Patient und Kalenderjahr für homöopathische Beratungen
Die Vergütung homöopathischer Leistungen der Ärzte ergibt sich aus speziellen, sogenannten Selektivverträgen, die etwa die Kassenärztliche Vereinigung Bremens mittelbar mit dem Deutschen Zentralverein homöopathischer Ärzte (DZVHÄ) abgeschlossen hat. Dieser Berufsverband homöopathisch tätiger Ärzte hat dabei ausgehandelt, dass die Erstanamnese mit einer Mindestdauer von 60 Minuten mit 92 bis 97 Euro vergütet wird. Folgegespräche über dieselbe Diagnose von mindestens 30 Minuten bringen dem Arzt jeweils weitere rund 50 Euro und können einmal pro Quartal geltend gemacht werden. „Zusammen mit weiteren Beratungsleistungen kann ein Arzt über 700 Euro je Patient und Kalenderjahr für homöopathische Beratungen mit der Krankenkasse abrechnen“, rechnet Bertelsen vor. Dem stehen dann insgesamt sieben Stunden und 20 Minuten Gesprächszeit gegenüber
Deutlich anders sieht das aus beim „problemorientierten ärztlichen Gespräch, das aufgrund von Art und Schwere der Erkrankung erforderlich ist“, wie es im sogenannten einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) formuliert ist. Der EBM in seiner jüngsten Ausgabe ist seit April 2020 ein knapp 1800 Seiten dicker Katalog aller denkbaren ärztlichen Leistungen. Jede Einzelne ist dort beschrieben und mit Punktwert versehen. Ein Punkt steht für 10,98 Cent. Das problemorientierte ärztlichen Gespräch ist demnach für jeweils vollendete zehn Minuten 128 Punkte oder 14,06 Euro wert und darf laut Katalog auch mehrmals hintereinander abgerechnet werden, so lange Diagnose und zugehöriges Arztgespräch in einem plausiblen und nachvollziehbaren Verhältnis zueinanderstehen.
Theoretisch wären die genannten sieben Stunden und 20 Minuten Patientengespräch daher zwar mit gut 618 Euro vergütbar, aber gleich mehrere Deckelungen bei den Budgets verhindern das. „Ich darf zum Beispiel grundsätzlich in jedem Quartal diese Gespräche nur bei der Hälfte meiner Patientenkontakte geltend machen“, sagt Mühlenfeld. Dazu kommt eine Obergrenze beim Gesamtbudget. „Der vorgegebene Punktwert aus dem EBM gilt immer nur bis zu dieser Grenze“, sagt Mühlenfeld. Weil dieser vorgegebene Geldtopf für Arztgespräche am Ende einfach durch die gesammelten Punkte geteilt wird, sinkt der Wert je Punkt, je mehr Gespräche die Ärzte abrechnen. „Ich kann zuvor gar nicht absehen, wie meine Beratung vergütet wird“, sagt Mühlenfeld. Anders bei der Homöopathie, hier sind feste Honorare vorgegeben.
Hinzu kommt: Das problemorientierte ärztliche Gespräch kann als Einzelleistung nicht in jedem Fall abgerechnet werden. So gelten viele Gespräche bereits durch die hausärztliche Pauschalen des Leistungskataloges als vergütet. „Man muss darum genau dokumentieren und begründen, dass das Gespräch notwendig und wenigstens zehn Minuten gedauert hat, um es abrechnen zu können.“ Das sei im Praxisalltag durchaus eine Hürde. Rein statistisch verbleibe jedem Hausarzt bei rund 3200 Patientenkontakten pro Jahr ohnehin nur rund eine halbe Stunde für jeden Fall. In dieser Zeit müsse er alle Untersuchungen erbringen und seine Gespräche führen. Und diese Statistik tue zudem so, als kümmere sich ein Arzt acht Stunden an jedem einzelnen Werktag des Jahres allein und ununterbrochen um seine Patienten.
Einheitlicher Bewertungsmaßstab (EBM)
Auf rund 1800 Seiten listet der einheitliche Bewertungsmaßstab auf, wie ärztliche Leistungen definiert und abgerechnet werden. Ausgehandelt wird das Werk von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) und dem Spitzenverband der gesetzlichen Krankenversicherungen. Die Beteiligten sagen, seit April diesen Jahres Arztgespräche besser zu vergüten.
Hausärzte, grundversorgende Fachärzte und die Fachgruppen der Psychotherapie, Psychosomatik, Psychiatrie, Neurologie und Nervenheilkunde erhalten nun mehr Honorar für ihre Gesprächsleistungen. Auch die Gesprächsanteile in den fachärztlichen Leistungen seien aufgewertet worden. Da das Ganze aber nicht mehr Geld insgesamt kosten soll, wurde an anderer Stelle gekürzt. Vor allem Radiologen, Strahlentherapeuten, Nuklearmediziner sowie fachärztliche Internisten bekommen nun weniger Geld für ihre medizintechnischen Leistungen.
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