Herr Wahl, am 4. Februar 1919 verschwand die Bremer Räterepublik durch eine Militärintervention auf Anordnung der Reichsregierung von der Bildfläche. War erst damit der Weg freigemacht für einen demokratischen Neuanfang?
Hans Rudolf Wahl: Man kann auf jeden Fall sagen: Erst nach dem 4. Februar setzte sich in Bremen die parlamentarische Demokratie gegenüber dem System der Arbeiter- und Soldatenräte durch. Wenn auch auf sehr labiler Grundlage und eben erst nach massiver militärischer Gewaltanwendung. Es war ein Machtkompromiss zwischen den maßgeblichen Kräften, der kleinste gemeinsame Nenner als Teil einer Zusammenbruchserfahrung am Ende des Ersten Weltkriegs.
Tatsächlich ist fraglich, wie weit die Demokratie von Demokraten getragen wurde. Auf sozialistischer wie auf bürgerlicher Seite. Ein Beispiel ist Walter Caspari. Der Führer des nach ihm benannten Freikorps war später Leiter der Sicherheitspolizei und bis 1933 eine einflussreiche Figur in Bremen.
Damit hatten die Rechten einen nicht unbedeutenden Fuß in der Tür. Auch Martin Donandt, bereits vor 1918 Bürgermeister und dann von 1920 bis 1933 Präsident des Senats, ein dem vorrevolutionären System verhafteter Mann, konnte mit Demokratie erklärtermaßen nichts anfangen. Man könnte noch viele derartige Beispiele aufzählen.
Ein Neuanfang sieht anders aus.
Das sehe ich als zentralen Punkt. Es gab eine sehr hohe Eliten-Kontinuität in der Weimarer Republik – auch in Bremen. Übrigens nicht nur im Bürgertum, sondern auch in der sozialistischen Arbeiterbewegung. Und auch die Führer der sozialistischen Arbeiterbewegung waren ja in der preußischen Militärmonarchie sozialisiert worden. Diese Sozialisierung hatte Folgen: Autoritäre Strukturen, ein autoritärer Habitus der politisch Handelnden und autoritäre Handlungsdispositionen finden sich auf allen Seiten. Anders wäre auch die Militärintervention vom 4. Februar 1919 nicht zustande gekommen.
Klingt nicht gerade nach revolutionärem Elan. Worin sehen Sie denn überhaupt die Errungenschaften der Novemberrevolution?
Man muss sich die Ausgangssituation klarmachen. 1918 ging es vor allem darum, den Krieg zu beenden und die preußische Militärmonarchie als Verursacherin der Niederlage zu beseitigen. Das ist geschehen, aber was an ihre Stelle treten sollte, das war zunächst völlig offen und verursachte bittere Konflikte in einer politischen Kultur, der Pluralismus fremd war.
Der Traum von einer klassenlosen Gesellschaft – mit der Speerspitze der Arbeiterklasse als treibende Kraft.
Wie gesagt: Auch die radikale Linke war autoritär. Die „Diktatur des Proletariats“ beruhte nicht auf einer Mehrheitsentscheidung in der Arbeiterbewegung oder gar im ganzen Volk, sie war von oben, von der Parteiführung gesetzt. Eine Minderheit nahm für sich in Anspruch, den richtigen Weg zu kennen und war entschlossen, ihn notfalls auch mit Gewalt gegen die Mehrheit durchzusetzen.
Sie sehen darin altes Herrschaftsdenken?
Jedenfalls waren die Arbeiter- und Soldatenräte – die ihrerseits nicht mit einer linksradikalen Diktatur des Proletariats gleichzusetzen sind – keine demokratischen Institutionen. Vielmehr herrschte die Vorstellung vor, die Herrschaft umzudrehen – frei nach dem Motto: bisher die, jetzt wir. Das ist typisch für ständisches Denken. Es beruht auf einem elitären, nicht egalitären Verständnis von Politik. Demokratie hat aber das Egalitätsprinzip zur Grundlage.
Und doch war nach 1918 nichts mehr wie vorher.
Richtig, ich sehe zwei zentrale Errungenschaften der Novemberrevolution: die Verankerung des Frauenwahlrechts und eine Demokratisierung der politischen Entscheidungsprozesse. Denn Macht kann jetzt nur noch ausüben, wer demokratisch legitimiert ist. Ab diesem Zeitpunkt wird Politik nicht mehr im Geheimbereich der Macht ausgehandelt, von nun an gibt es eine medial konstituierte Öffentlichkeit, die den Rahmen für das politische Handeln setzt. Politik ohne Öffentlichkeit ist nicht mehr denkbar, die Politik wird medialisiert, das ist die eigentliche Epochenzäsur.
Sie meinen: Im Unterschied zum 19. Jahrhundert, als es auch schon einflussreiche Zeitungen gab, die der Öffentlichkeit eine Stimme gegeben haben, aber kein Gewicht.
Ganz genau. Das können Sie auch räumlich sehen: Von den Hinterzimmern der Macht wird die Politikgestaltung in die Zeitungen und auf die öffentlichen Plätze, letztlich auch auf die Barrikaden gebracht. Wir haben es hier mit einem grundlegenden Strukturwandel der Politik zu tun, die alle weiteren Entwicklungen prägt.
Sprechen wir von der Deutung der Räterepublik…
… allein der Begriff ist schon problematisch. Weil er nicht authentisch ist. Dieser Begriff findet sich 1918/19 an keiner Stelle, es war immer nur von Räteherrschaft oder Räteregierung als Gegenentwurf zur parlamentarischen Demokratie die Rede. Und am 10. Januar 1919 wurde eine Selbstständige Sozialistische Republik proklamiert. Der Begriff der Räterepublik hätte auch wenig Sinn gemacht, denn die Herrschaft des Arbeiter- und Soldatenrates gab es zum damaligen Zeitpunkt bereits seit zwei Monaten in Bremen.
Und wie erklären Sie sich den Begriff „Räterepublik“?
Eine wirkliche wissenschaftliche Erforschung dieses Begriffes gibt es bis heute leider nicht. Übrigens nicht nur bezogen auf Bremen. Es würde mich aber nicht wundern, wenn er erst um 1968 eingeführt worden wäre. In den damaligen Zeiten des Aufbegehrens gegen die verkrusteten Strukturen der jungen Bundesrepublik bedurfte es einer historischen Selbstvergewisserung, in Bremen bot sich das kurzlebige Experiment der Sozialistischen Republik an.
Interessanterweise wurde der sprachliche Bezugsrahmen dabei auf die kommunistisch dominierte Zeit zwischen dem 10. Januar 1919 und der Militärintervention verkürzt, womit die von der linkssozialistischen USPD geprägte Zeit zwischen November 1918 und Januar 1919 implizit zur Vorgeschichte degradiert wurde. Wenn man sich jedoch die gegenwärtige öffentliche Nutzung dieses Begriffes „Räterepublik“ einmal etwas näher ansieht, dann lässt sich derzeit eine politisch interessante semantische Verschiebung hin zur Ausweitung des Bezugsrahmens auf den gesamten Zeitraum November 1918 bis Februar 1919 feststellen. Für den Begriff der Rätedemokratie – 1918/19 ein Paradoxon – gilt Ähnliches.
Mitsamt verklärender Tendenzen.
Allerdings. Die Narration lautet, der Versuch, eine bessere, eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen, sei nur an der sozialdemokratisch dominierten Reichsregierung gescheitert, die gemeinsame Sache mit den reaktionären Kräften gemacht habe. Dies manifestiert sich auch in dem berühmten Slogan: „Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!“ Im Grunde ist das aber nur eine andere, eine linke Dolchstoßlegende.
Inwiefern?
Die Narration von der guten Räterepublik hat nur sehr bedingt mit den tatsächlichen Ereignissen von 1918/19 zu tun. Zunächst gab es einen faktischen Machtkompromiss zwischen Arbeiterbewegung und Bürgertum, der Arbeiter- und Soldatenrat traute sich zunächst nicht, die Verwaltung zu übernehmen, die weiterhin fest in der Hand der alten bürgerlichen Kräfte blieb.
Und als die Kommunisten diese Übernahme dann doch durchsetzten, war das politische Experiment schon nach einer Woche gescheitert, weil ihnen die Banken den Geldhahn zudrehten und die verschiedenen Flügel der sozialistischen Arbeiterbewegung so zerstritten waren, dass sie darauf keine einheitliche politische Antwort fanden. Die endgültige politische Bankrotterklärung war dann die Zustimmung zu den demokratischen Wahlen zur bremischen Nationalversammlung – der Machtverlust des Arbeiter- und Soldatenrates war absehbar.
Und warum dann noch die Militärintervention? Aus Staatsräson?
Wohl eher wegen des Verständnisses von Staatsräson, das die Sozialdemokraten Friedrich Ebert (damals Vorsitzender des Rates der Volksbeauftragten, später Reichspräsident, Anm. d. Red.) und ein Gustav Noske (damals Volksbeauftragter für Heer und Marine, später Reichswehrminister, Anm. d. Red.) hatten. Die Reichsregierung aus MSPD und bürgerlichen Parteien wollte kein alternatives Staatsmodell dulden, sondern ihren politischen Zukunftsentwurf ohne Abstriche und Kompromisse durchsetzen, wenn nötig mit Gewalt.
Was ihnen auch gelungen ist. Damit sind wir wieder beim Thema Autoritarismus als Kern der damaligen politischen Kultur in Deutschland. Der sozialdemokratische Reichswehrminister Gustav Noske behauptete zwar 1919, die Lebensmittelversorgung über die Häfen sei gefährdet gewesen, und konstruierte in öffentlichen Statements einen angeblich drohenden bremischen Separatismus. Aber das war bereits 1919 leicht als Vorwand erkennbar, weil die britische Seeblockade damals noch in Kraft war und es einen Separatismus à la Bayern in Bremen nie gegeben hatte.
Die damalige Sozialdemokratie als Gegenpol des Rätesystems. Und doch würde die Bremer SPD gern die Ereignisse von 1918/19 inklusive Räterepublik stärker im kollektiven Bewusstsein verankern, wie sie jüngst in einem Antrag in der Bremischen Bürgerschaft formulierte.
Man sollte zunächst einmal klären, was man unter diesem Begriff eigentlich genau versteht, in welchem semantischen Bezugsrahmen man ihn verwendet. Ob dieser wirklich der Zeit vor 100 Jahren gerecht wird oder einer Metaebene entstammt. Man sollte die Revolution auch nicht instrumentalisieren. Und die alten politischen Schlachten sollte man nicht immer weiter schlagen wollen. Das gilt allerdings für alle Parteien, die in damaligen politischen Kräften ihre historischen Wurzeln sehen. Der Blick sollte sich vielmehr auf das damals eigentlich Neue richten, auf das, was es in der Folge bewirkte und wo wir heute seine tatsächlichen Erben sind – Stichwort: Medialisierung der Politik.
Neuerdings ist eine Neubewertung der Novemberrevolution zu beobachten. Renommierte Historiker sehen in den damaligen Ereignissen die Wurzeln unserer Demokratie.
Da rate ich zur Vorsicht. Vieles nimmt sich sehr fremd aus, die Novemberrevolution und die Weimarer Republik sind noch ein großes Stück von unserer heutigen Zivilgesellschaft entfernt. Man muss aufpassen, nicht eine neue Mythografie zu stiften – nämlich die, dass 1918 die bundesrepublikanische Demokratie begonnen habe. Bekanntlich sind ja auch wissenschaftliche Narrationen über unsere Geschichte Erzählungen, die in diskursiven Zusammenhängen stehen, die in der jeweiligen Gegenwart verankert sind und diese zugleich kulturell mitprägen. Deshalb handelt es sich hier nicht nur um eine innerwissenschaftliche Diskussion. Damals – 1918/19 – entstand die erste Demokratie in Deutschland, aber es war noch nicht unsere Demokratie.
Das Gespräch führte Frank Hethey.
Hans Rudolf Wahl (51) ist Medienwissenschaftler an der Bremer Universität. Er forscht über die Novemberrevolution, die Bremer Räterepublik und die Anfänge der Demokratie in
Bremen.