Nein, einen exakten Zeitpunkt kann Andreas nicht nennen. „Ich weiß nicht genau, wann meine Sucht begonnen hat“, sagt der 63-Jährige. Es sei ein schleichender Prozess gewesen, in dem sich der Alkohol nach und nach seines Körpers bemächtigt habe. „Das hat sich wirklich über Jahrzehnte hingezogen“, blickt er zurück. Heute ist Andreas „trocken“, das heißt, er nimmt keinen Tropfen Alkohol mehr zu sich, ganz bewusst und mittlerweile auch ohne darüber nachdenken zu müssen.
Die vielen schlimmen Erfahrungen, die er – vor allem aber seine Familie – während seiner jahrzehntelangen Suchtphase mitmachen musste, haben ihn geläutert – nun möchte Andreas andere Betroffene vor ähnlich schlimmen Erlebnissen bewahren, mittlerweile leitet der Rentner in Huchting sogar selbst eine Selbsthilfegruppe für alkoholkranke Menschen.
Die Selbsthilfegruppe mit der Bezeichnung „FK 15“ hat ihren Sitz in der Dietrich-Bonhoeffer-Gemeinde an der Luxemburger Straße und ist eine von insgesamt 13 Selbsthilfegruppen, die zum Bremer Landesverband der „Freundeskreise für Suchtkrankenhilfe“ gehören. Ins Leben gerufen wurde der Bremer Ableger des 1956 gegründeten Bundesverbandes 1982, seit 1984 gehört er dem Bundesverband an.
Ehemalige Sucht-Patienten aus verschiedenen Fachkliniken in Baden-Württemberg hatten einst den Gedanken entwickelt, dass persönliche Beziehungen und Freundschaften zu einer Stabilisierung der jeweiligen Persönlichkeit beitragen könnten – wodurch letztlich eine dauerhafte Abstinenz von jeglicher Suchtform erreicht würde. Im Laufe ihrer Entwicklung haben sie die Freundeskreise organisiert und bundesweit Strukturen geschaffen. „Wir haben Landesverbände und den Bundesverband gegründet“, berichtet Andreas, „durch diese Gemeinschaft sind wir als Freunde verbunden.“
Ein Netzwerk der persönlichen Hilfe ist entstanden, die gewachsenen Organisationsstrukturen werden von allen Mitgliedern anerkannt. Die Freundeskreise sind keine anonymen Gruppen, die Gruppenbegleiter und -begleiterinnen sind namentlich als Ansprechpartner bekannt.
„Unsere Angebote zielen auf die körperliche und seelische Gesundheitsförderung der Gruppenteilnehmer ab“, erklärt Andreas, der seinen Nachnamen aus Angst vor einer Stigmatisierung seitens seiner Bekannten oder seines Arbeitgebers nicht nennen möchte. Das oberste Ziel aller Freundeskreise sei es, eine zufriedene Abstinenz zu erreichen und eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens zu finden. Dabei bildeten christliche Grundwerte, insbesondere die Nächstenliebe, das Fundament. „Die Freundeskreise gehören demnach zur Diakonie“, so Andreas, „wir sind jedoch offen für alle, völlig unabhängig von Konfession oder sozialer Herkunft.“
Die Suchtstruktur eines Betroffenen kann laut Andreas nie als Blaupause für andere genutzt werden, Sucht in jeglicher Form sei individuell und wirke sich dementsprechend auch stets einzigartig auf die Betroffenen und deren Umfeld aus. „Wir sehen die Auswirkungen von Sucht auf das Familiensystem und betrachten Sucht daher als Familienkrankheit“, betont er, der seit Januar 2005 selbst „trocken“ ist und als Gruppenleiter derzeit für acht Betroffene zuständig ist. „Für mich ist dieses Datum ein wichtiger Zeitpunkt“, sagt Andreas, „es war der Wendepunkt in meinem Leben und dem meiner gesamten Familie.“
Andreas ist verheiratet, hat zwei Töchter und drei Enkelinnen. Jahrzehntelang war er für verschiedene Bremer Logistikunternehmen im Management tätig, selbst in seiner ganz schlimmen Suchtphase sei er stets berufstätig gewesen. „Der Körper ist voll funktionstüchtig“, erklärt Andreas dieses Phänomen, „sobald ich meinen täglichen Alkoholpegel erreicht hatte, konnte ich vollkommen normal und für meine Kollegen sogar einigermaßen unauffällig in der Firma arbeiten.“ Geholfen habe ihm der Bremer Freundeskreis, dem er 2002 beitrat, nachdem er zuvor – „während meiner persönlichen Selbstfindungsphase“ – bei den Guttemplern Hilfe gesucht hatte. Suchtkrankheit kann nur dann zum Stillstand kommen, wenn der Suchtmittelkonsum eingestellt wird. Ein abhängiger Mensch ist nicht in der Lage, dauerhaft den Suchtmittelkonsum zu steuern oder zu kontrollieren. Den Entschluss zur Suchtmittelabstinenz trifft jedes Freundeskreismitglied selbstbewusst und eigenverantwortlich. Die Gruppe begleitet den Prozess zur Entscheidungsfindung als solidarische Gemeinschaft und unterstützt in Krisensituationen. „Einen Rückfall kann jeder Betroffene erleiden“, verdeutlicht Andreas, „das gehört zu dieser Krankheit dazu.“
Er selbst sieht die größte Gefahr für Alkoholsüchtige in dem „ versteckten“ Alkohol, beispielsweise in Pralinen. Auch der Werbeindustrie schreibt Andreas eine gewisse Verantwortung zu – der diese allerdings nur bedingt nachkomme. „Alkohol oder Zigaretten sind gesellschaftlich anerkannte Drogen“, bemängelt der 63-Jährige, „diese Tatsache müssen Produzenten und auch die Bevölkerung endlich einsehen, damit sich das Suchtverhalten bereits in ganz jungen Jahren gar nicht erst entwickeln kann.“
Sobald ein Mensch an einer Suchterkrankung leide und versuche, aus diesem Teufelskreis auszubrechen, benötige er oder sie jedwede mögliche Unterstützung. „Der Schritt, sich einem der verschiedenen Freundeskreise anzuschließen“, betont Andreas, „ist ein erster Schritt heraus aus der Sucht.“ Viele Menschen kämen in die Selbsthilfegruppen, weil sie am Ende seien und ihre Probleme mit Suchtmitteln nicht mehr allein bewältigen könnten. Die Erfahrungen der anderen Betroffenen machen Mut und können einen Umdenkungsprozess in Gang setzen. Neue und andere Möglichkeiten, das eigene Leben zu gestalten, eröffnen sich. Das betrifft insbesondere den Umgang mit Konflikten. „Somit können sich Menschen in der Selbsthilfe persönlich weiterentwickeln“, versichert der ehrenamtliche Suchtbegleiter.
Offen für andere Suchterkrankungen
Aufgrund der Entstehungsgeschichte der Freundeskreise sprechen die Verantwortlichen mit ihrem Gruppenangebot in erster Linie Menschen an, die Probleme mit Alkohol und/oder Medikamenten haben. Die Gruppen kümmern sich aber auch um andere Süchte. Die Freundeskreise bemühen sich um Offenheit und wollen ebenso Menschen ansprechen, die nicht nur von einem Suchtmittel abhängig sind. „Wir haben neuerdings auch einen Freundeskreis für Spielsüchtige und einen für jungen Menschen, die an einer Suchtkrankheit leiden“, berichtet Andreas. Die ehrenamtlich Tätigen geben ihre Erfahrungen an Betroffene und Angehörige weiter und informieren über die zum Teil gravierenden Auswirkungen.
Das Zusammensein ist geprägt von Freundschaft, von offenem Austausch und von gegenseitiger Unterstützung. „Wir sind Tag und Nacht für Betroffene ansprechbar“, versichert Andreas, „jedes Gruppenmitglied hat meine Telefonnummer und kann mich bei Bedarf anrufen.“
Seine Familie unterstütze ihn nach Kräften und sei selbst in seiner schlimmsten Phase ein starker Rückhalt für ihn gewesen. „So viel Glück hat allerdings nicht jeder Süchtige“, weiß Andreas, „diesen Rückhalt versuchen wir den Betroffenen innerhalb der Freundeskreise zu bieten.“
Anlaufstellen für Suchtkranke
◼ Die Gruppen des Landesverbandes der „Freundeskreise für Suchtkrankenhilfe“ sind über das gesamte Stadtgebiet verteilt. Ansprechpartner sind die jeweiligen Gruppenleiterinnen und -leiter. Ausführliche Informationen über den Landesverband, das Leitbild sowie zu einzelnen Themen sind außerdem im Internet auf der Seite www.freundeskreise-sucht-bremen.de zu finden.
FK 02 – Vegesack: Freie Christengemeinde; Zur Vegesacker Fähre 45-51, montags; Telefon: 66 99 59 (Dieter)
FK 03 – Vahr: Begegnungsstätte „Olymp“; Eislebener Straße 31; mittwochs; Telefon: 01 73 / 95 95 278 (André)
FK 04 – Osterholz: Gemeindehaus; Osterholzer Heerstraße 124; dienstags; Telefon: 28 39 66 (Gerhard)
FK 05 – Gröpelingen: Behandlungszentrum West; Gröpelinger Heerstraße 104-106; freitags; Telefon: 0174 / 599611 (Peter)
FK 06 – Gröpelingen: Nachbarschaftshaus Helene Kaisen; Beim Ohlenhof 10; freitags; Telefon: 59 32 37 (Gerhard)
FK 07 – Ostertor (Frauengruppe): Theodor-Körner-Straße 1; donnerstags; Telefon: 04 202 / 91 06 84 (Sabine)
FK 08 – Utbremen: Begegnungsstätte; Haferkamp 8; Telefon: mittwochs; Telefon: 52 95 33 (Gerd)
FK 09 – Habenhausen: Begegnungsstätte; Ohserstraße 2; mittwochs; Telefon: 55 23 46 (Klaus)
FK 11 – Oberneuland: Gemeindehaus; Hohenkampsweg 6; montags; Telefon: 25 91 84 (Jochen)
FK 12 – Neustadt: Gemeindezentrum Zion; Kornstraße 31; donnerstags; Telefon: 01 77 / 54 77 719 (Frederick)
FK 13 – Vahr (junge Menschen): Begegnungsstätte „Olymp“; Eislebener Straße 31; dienstags; Telefon: 47 63 34 (Claudia und Volker)
FK 14 – Huchting: Dietrich-Bonhoeffer-Gemeinde; Luxemburger Straße 29; dienstags; Telefon: 0 42 21 / 20 00 05 (Axel)
FK 15 – Huchting: Dietrich-Bonhoeffer-Gemeinde; Luxemburger Straße 29; Telefon: 0 42 21 / 26 489 (Andreas)
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