Kunst erobert den Stadtteil
Bunte Fähnchen, aufgehängt an gespannten Seilen, flattern über dem Blumenthaler Marktplatz. Die Dekoration erinnert ein wenig an die Schützenfeste, die hier früher groß gefeiert wurden. Mit Schützen hat dies allerdings nichts zu tun. Wohl aber mit einem Fest. Das Theater Bremen veranstaltet hier an zwei Wochenenden das Festival „Auswärtsspiel: Blumenthal“. Das startete am Freitag mit der Eröffnung im Rathaus und Erlebnis-Spaziergängen durch den Stadtteil, sogenannten Bloomtag-Walks.
Pinkfarbene und grüne, auf den Bürgersteigen aufgeklebte Pfeile weisen den Weg zu verschiedenen Veranstaltungsorten. So auch zum Rathaus, das ebenfalls in den Festival-Farben geschmückt ist und mit einem roten Teppich vor der Eingangstür ins Innere des Gebäudes lockt. Das Gebäude ist ganz auf die große Veranstaltung eingestellt, ist Festival-Zentrum, bietet alle wichtigen Informationen, ein Diskursprogramm und darüber hinaus in 30 Räumen vom Dachboden bis zum Keller Videoinstallationen, Filme, Ausstellungen – unter anderem vom alten Blumenthal und mit Comics – und einiges mehr.
Und nun erst einmal der Auftakt. Intendant Michael Börgerding entschuldigt die krankheitsbedingte Absage von Kulturstaatsrätin Carmen Emigholz, die das Festival eröffnen sollte. Festivalleiterin Natalie Driemeyer schwärmt von den Möglichkeiten, die der Stadtteil den Kulturschaffenden bietet und von dem, was man in Blumenthal schaffen könne und geschafft hat. Etwa 40 städtische Kooperationspartner und 200 Theater-Leute waren daran beteiligt.
Ortsamtsleiter Peter Nowack erzählt, dass das Rathaus seit drei Tagen nicht mehr das Domizil des Ortsamtes sei. „Da kommen Menschen von außerhalb, die haben einen ganz anderen Blick auf den Stadtteil und das Gebäude, als die, die immer in ihrem eigenen Saft schmoren.“ Das Haus sei schon seit Wochen für die Künstler freigegeben. „Ehrwürdig und alt war es vorher, jetzt ist es ehrwürdig, alt und bunt. Ich hoffe, dass die Blumenthaler hinterher sagen, dass Blumenthal der schönste Stadtteil Bremens ist.“
Besondere Begegnungen
Den Reden folgen die Bloomtag-Walks und „Fleurovalley: Homezone 2016“, eine Zusammenarbeit zwischen Theater und Jugendlichen des Stadtteils. Die Teilnehmer der Bloomtag-Walks werden in mehreren Gruppen aufgeteilt und innerhalb der Gruppen in Zweier-Teams. Jedes Paar erhält eine Tasche, in der sich mehrere Umschläge befinden. „Wir haben Menschen gefunden, die ihre Türen hier für Euch öffnen. Lasst Euch überraschen“, lockt Martin Thamm, verantwortlich für die Inszenierung der Bloomtag-Walks. „Jeder Umschlag enthält eine Einladung zu einem bestimmten Ort, einer bestimmten Person. Dort werdet Ihr eine bestimmte Begegnung erfahren.“
Die erste Station auf einer der fünf Erlebnistouren durch den Stadtteil ist der Wasserturm. 83 Stufen kann hier, wer will, erklimmen. Oder gleich einen der durchnummerierten Umschläge öffnen, um zu schauen, wer in der Mühlenstraße eingeladen hat. Manfred Gehrlich ist Gastgeber. Er betreibt schräg gegenüber vom Wasserturm ein Geschäft mit fußgesundem Schuhwerk. Er sei von Martin Thamm schon vor Monaten angesprochen worden, ob er sich an dem Festival beteiligen wolle, erzählt der gebürtige Neuenkirchener. 35 Jahre lang habe er bei der Firma Lohmüller in Blumenthal gearbeitet. „Ich habe noch den alten Hermann Lohmüller kennengelernt.“ Und er habe auch den Niedergang der Mühlenstraße miterlebt.
Inzwischen ist Manfred Gehrlich Rentner. Die Geschichte mit den Schuhen habe er schon über das Internet gemacht und nun seit anderthalb Jahren auch direkt in einem Geschäft. Auf dem Schreibtisch hat er ein Buch mit Ansichten aus dem alten Blumenthal aufgeschlagen. Ein großes Foto auf einer Tafel, ausgeliehen vom Dokumentationszentrum, zeigt die Mühlenstraße von 1910 – ohne Wasserturm. „Der wurde erst 1927 gebaut“, klärt Gehrlich auf. Weitere Bilder aus früheren Zeiten können in seinem Laden auf einem Laptop angeschaut werden.
Näher kennenlernen lässt sich bei den Bloomtag-Walks auch Sevki Ustanın Yeri Backhaus und Feinkost in der Mühlenstraße. Hier empfängt Kasım Aktas, Neffe des Bäckermeisters, die Gäste. Der Abiturient erzählt, dass er zwei Jahre lang einen Kunstleistungskurs belegt hat und Theater auch eine seiner Leidenschaften ist. „Als ich vor einiger Zeit nach der Schule meine Tante und meinen Onkel besuchen wollte, saßen Martin und Franz vom Theater hier. Tante und Onkel wussten gar nicht, um was es geht.“
Unterstützt wird der 18-Jährige von Michael Grashoff, der den Besuchern in der Kürze der Zeit ein paar Griffe auf seiner Konzertgitarre beibringt. Ein Bekannter habe ihn auf das Festival angesprochen, sagt der Worpsweder und verweist auf einen Probelauf mit Freiwilligen tags zuvor. „Die waren sehr interessiert.“ Bevor es zur nächsten Station geht, gibt es noch Tee und Fladenbrot, serviert vom Bäckermeister und seiner Frau.
Im Festival-Büro in der Kapitän-Dallmann-Straße verbreitet Schauspielerin und Sängerin Karin Enzler Appenzeller Blues. Das Ensemble-Mitglied des Bremer Theaters sitzt im Dirndl in dem im Stile der 50er-Jahre eingerichteten Raum, spielt Gitarre und singt in schönstem Schwyzerdütsch melancholische Weisen. In Appenzell gebe es die zweithöchste Selbstmordrate weltweit nach Finnland, erzählt sie. Seit 2003 lebt sie in Deutschland. Das Jodeln hat sie aber noch nicht verlernt.
Das Festival-Büro vermietet haben Bärbel und Rudolf Schnieders, die das Haus noch bewohnen. Bärbel Schnieders empfängt Besucher in ihrer guten Stube, der ehemaligen Backstube des Hauses, bei Kaffee und Keksen, serviert auf feinstem Royal Albert Porzellan. Die Theater-Leute, die die Geschäftsräume als Festival-Büro gemietet haben, seien ihnen gleich sehr sympathisch gewesen, sagt die Seniorin. „Die sind so nett und zuvorkommend. Die haben wir richtig ins Herz geschlossen.“ Die Blumenthaler seien so negativ eingestellt. „Vielleicht, wenn hier Leute von außen kommen, entstehen hier auch mal wieder ein paar Geschäfte, und vielleicht wird es auch wieder belebter und sauberer“, hofft Bärbel Schnieders, die bis Ende 1970 gemeinsam mit ihrem Ehemann die Bäckerei betrieben hat. „Hier existierten mal fünf Bäckereien im Zentrum, und die konnten alle davon leben.“
Theater auf der Dachterrasse
Wer weniger vom alten Blumenthal, dafür mehr von den aktuellen Theater-Produktionen erfahren möchte, hat auch dazu Gelegenheit, beispielsweise „Robin Hood“, das auf der Dachterrasse des Seniorenzentrums Haus Flethe präsentiert wird. Unter Sonnenschirmen sitzen die Besucher am Sonnabendnachmittag und folgen den der Hitze schutzlos ausgesetzten Protagonisten bei ihrem Spiel von den Furchtlosen, die es den Reichen genommen und den Armen gegeben haben. Dabei löst so manche Szene Heiterkeit aus – die Inszenierung hat nur noch wenig mit der bekannten Legende um die Helden zu tun. Theater wird aber auch im ehemaligen Verwaltungsgebäude der BWK gespielt.
Die Aufführungen kosten ebenso Eintritt wie die Bloomtag-Walks oder eben „Robin Hood“. Wer sich den Eintritt nicht leisten kann, hat die Möglichkeit, sich durch Arbeit sogenannte Blumenthaler, eine fiktive Währung, zu erwirtschaften. Die gibt es in der „Blumenbank“ der Zwischenzeitzentrale. 3000 Blumenthaler benötigt man für eine Theaterkarte. Von dieser Möglichkeit wird durchaus Gebrauch gemacht.
Ortsamtsleiter Peter Nowack hofft, dass das nächste Festival-Wochenende vom 10. bis 12. Juni richtig voll wird. „Die Leute haben sich überwiegend positiv geäußert.“ Wenn das „Auswärtsspiel“ gut angenommen wird, ist für die Verantwortlichen des Theaters wie auch für Nowack eine Neuauflage denkbar.
Das komplette Programm des Festivals gibt es im Internet unter www.theaterbremen.de/auswaertsspiel.