Die Häuser stehen unter Denkmalschutz und gruppieren sich um zwei große Innenhöfe. Sie gehören zu einer fast 100 Jahre alten Eisenbahnersiedlung, die damals als sozialpolitisches Vorzeigeprojekt galt. Was ist daraus geworden? Wie leben die Menschen? Sind die Nachbarschaften noch intakt? Ein Besuch im Breitenbachhof in Gröpelingen.
Es ist Freitag, und immer freitags bimmelt irgendwann am Vormittag die Glocke – der Eierwagen kommt. Marian Kott, der in diesem Moment aus der Haustür tritt, um sich eine Zeitung zu kaufen, soll sich sputen, sagt seine Frau. „Bring Eier mit“, ruft sie aus dem Fenster zum Hof hinunter.
Kott hört das wohl, die Eier wird er später aber vergessen. Zunächst hat der 83-Jährige nämlich etwas zu erzählen. Davon, was sich an dem Ort, wo er wohnt, alles verändert hat. Wie aus dem Breitenbachhof, der alten Eisenbahner-Siedlung in Gröpelingen, im Laufe der Jahre etwas geworden ist, was ihm nicht mehr gefällt. „Schauen Sie sich doch um“, sagt Kott, „der ganze Abfall, und was hier alles rumsteht.“
Das Ehepaar Kott lebt seit mehr als 30 Jahren im Breitenbachhof. Die Wohnung, sagt Marian Kott, ist in Ordnung. Drei Zimmer, Küche und Bad. 50 Quadratmeter für eine Kaltmiete von 370 Euro. „Das ist so günstig, da zieht man nicht weg.“ Nur eben, dass er mittlerweile andere Nachbarn hat – Kott ist vorsichtig, „wenn man’s sagt, ist man gleich ein Nazi“.
Menschen, meint er, die sich nach seinem Empfinden nicht darum scheren, ob die Müllsäcke liegen bleiben oder Einkaufswagen vom Supermarkt einfach im Hof stehen gelassen werden. Das regt ihn auf. „Früher haben wir auf den Bänken gesessen, uns was erzählt, die Kinder haben gespielt, alles vorbei“, bedauert der Rentner
Wurst, Käse und Gemüse
Den Eierwagen gibt es noch, er kommt seit 26 Jahren. Andrea Pleiter, die hinterm Tresen den Verkauf erledigt, bringt aus ihrer Heimat in Südoldenburg neben den Eiern auch Bauernbutter mit, frische Suppenhühner, Wurst, Käse, Gemüse oder selbst gemachten Eierlikör, einen mit Schnaps und einen mit Weinbrand. „Der mit Schnaps ist milder“, sagt Pleiter.
Marian Kott wird den Wagen verpassen, er hat sich beim Zeitungskaufen offenbar verplaudert und muss nun Ärger mit seiner Frau befürchten. Die Kotts sind Stammkunden, erzählt die Verkäuferin, „nette Leute.“
Nun aber hat sie zu tun. „Hallo Christel!“, begrüßt Andrea Pleiter eine Frau, die mit dem Portemonnaie in der Hand und nackten Füßen in den Sandalen an ihren Wagen kommt. Die Verkäuferin muss gar nicht erst fragen, sie weiß auch so, was Christel haben möchte. Geflügelsalat, Eier und Hähnchenkoteletts – immer das Gleiche. Die beiden Frauen lachen. Sie teilen ein Ritual.
Christel Eichler gehört wie die Kotts zu den Bewohnern, die seit Jahrzehnten im Breitenbachhof leben. „Ich hänge an den alten Häusern“, sagt die 58-Jährige. Gut auch, meint sie, dass es die beiden Innenhöfe gibt. „Man kommt hier rein und fühlt sich geschützt.“ Viel Nachbarschaft wird deshalb aber nicht mehr gelebt, sagt Eichler. „Hier bleibt jeder für sich.“
Gedacht war das einmal anders. Der Breitenbachhof als Modellprojekt. Das Gebäudeensemble war in Bremen vor fast 100 Jahren der erste geschlossene Baublock mit Geschosswohnungen, errichtet vom Eisenbahn Spar- und Bauverein, der bis heute Eigentümer ist. Die Zeit der Eisenbahner ist freilich längst vorbei, nur noch wenige Mieter in den 162 Wohnungen, die früher im Stellwerk gearbeitet haben, Lokomotivführer waren oder Schaffner. Einen Zusammenhalt über den gemeinsamen Beruf gibt es nicht mehr.
Gerhard Liedtke war mal Rangierer. Mit seiner Frau Hella wohnt er seit 48 Jahren im Breitenbachhof und hat dort seine zwei Kinder aufwachsen sehen. „Früher war das ein nettes Miteinander“, sagt der 77-Jährige. Die Geborgenheit einer Hofsiedlung. Und eine Lebensform, die heute als überkommen gilt: Der Mann geht zur Arbeit, ein anstrengender Schichtdienst, die Frau bleibt zu Hause, hütet die Kinder und erledigt den Haushalt.
Es gab einen gemeinsamen Platz zum Trocknen der Wäsche und die Metallstange zum Teppichausklopfen. Ideal für einen Schnack mit der Nachbarin. Die Kinder konnte man getrost laufen lassen, sie waren durch den Hof geschützt, in den damals noch keine Autos hineinfahren durften. Mittendrin eine große Kastanie und drumherum Rasen. „Da durfte keiner rauf, Betreten verboten“, erzählt Hella Liedtke. „Um die Sandkiste für die Kinder mussten wir kämpfen.“
Balkon zum Hof
Die Liedtkes leben in einer sehr gepflegten und ungemein hellen 75-Quadratmeter-Wohnung. Sie haben es schön, mit Balkon zum Hof, und wollen bleiben. Auch wenn es mit der Nachbarschaft nicht mehr so ist wie früher und der Ruf der Siedlung gelitten hat. „Aber wissen Sie“, sagt Hella Liedtke, „man muss tolerant sein, leben und leben lassen.“
Seit drei Jahren gibt es im Breitenbachhof einen Nachbarschaftstreff: „Bei uns“, organisiert vom Martinsclub, der in dem Gebäudekomplex Wohngemeinschaften mit geistig behinderten Menschen betreut. Der Treff soll ein Miteinander organisieren, doch bisher hat das kaum geklappt. „Wir wünschen uns mehr Kontakt“, sagt Simon Busch, der die Einrichtung leitet. Beim Hoffest zum Beispiel – „da schauen die Leute aus dem Fenster, kommen aber nicht runter“. Es gibt auch einen Stammtisch – keine Resonanz. Einzig der Handarbeitskreis scheint zu funktionieren und zieht ein gemischtes Publikum an.
„Bei uns“ sitzt in den Räumen einer alten Bäckerei, die es im Breitenbachhof mal gegeben hat. Doch das ist Geschichte, wie so vieles in der Siedlung. Sie stand für einen Gedanken, den heute keiner mehr denkt.
Der Breitenbachhof
Der Breitenbachhof in Gröpelingen wurde in den Jahren zwischen 1915 und 1919 vom Architekten Rudolph Jacobs erbaut. Auftraggeber war der Eisenbahn Spar- und Bauverein (Espabau) von 1893. Die Genossenschaft hatte sich zum Ziel gesetzt, Wohnraum für Geringverdiener zu schaffen, in diesem Fall für Arbeiter und Beamte der Eisenbahn. Espabau ist bis heute Eigentümer des Breitenbachhofs und bietet die 162 Wohnungen zu vergleichsweise geringen Mieten an. Der Gebäudekomplex im Ortsteil Ohlenhof war zu der Zeit seiner Entstehung einmalig in Bremen. Keine kleinteilige Bebauung mehr, sondern ein geschlossener Baublock mit zunächst 142 Geschosswohnungen. Später kamen durch den Ausbau der Dachgeschosse 20 Wohnungen hinzu. Der Block umschließt eine Fläche von 144 mal 68 Metern. Die zwei Innenhöfe sind durch vier Einfahrten erreichbar. Seit 1978 steht der Breitenbachhof unter Denkmalschutz.
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