Die Patientin sitzt zu Hause im Wohnzimmer und bekommt einen Link ihres Psychotherapeuten auf das Smartphone geschickt. Hat sie zuvor eingewilligt, öffnet sich ein Videofenster, beide können sich sehen und miteinander sprechen. So kann es aussehen, wenn ärztliche Sprechstunden und psychotherapeutische Sitzungen digital statt in der Praxis stattfinden. Die Genehmigung dafür haben seit Anfang des Jahres sprunghaft mehr Praxen beantragt, bestätigt die Kassenärztlichen Vereinigung Bremen (KVHB) dem WESER-KURIER.
Zwar ist die digitale Sprechstunde seit April vergangenen Jahres für Psychotherapeuten und bereits zwei Jahre länger für Mediziner unter bestimmten Bedingungen möglich – allerdings wurde sie bislang kaum genutzt. Das zeigen Zahlen der KVHB. „Aktuell verfügen mehr als 400 Ärzte und Therapeuten in Bremen und Bremerhaven über eine Genehmigung zur Abrechnung. Zum Stichtag 31. Dezember vergangenen Jahres waren es nur drei“, sagt Christoph Fox, Sprecher der Kassenärztlichen Vereinigung. Allerdings bedeute eine Genehmigung nicht automatisch, dass diese auch für digitale Sprechstunden genutzt werden, betont er. Konkrete Zahlen dazu könnten erst in einigen Monaten genannt werden.
Was sich aber jetzt schon zeigt: Vor allem Psychotherapeuten machen von der Möglichkeit Gebrauch. „Die Therapeuten müssen nicht unbedingt nahen Kontakt haben, weil man ja spricht. Das geht relativ gut über eine Videoleitung“, sagt Fox. Die Entwicklung der vergangenen Monate fasst er so zusammen: „Es hat einen richtigen Push gegeben.“ Auslöser ist vor allem die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Einschränkungen.
Ein Psychotherapeut, der Videosprechstunden in den vergangenen Monaten angeboten hat, ist Christoph Sülz. Er ist Vorstandsmitglied der Psychotherapeutenkammer Bremen. Seine Praxis im Steintorviertel stellte die komplette Versorgung auf digitale Sprechstunden um, in diesen Tagen finden wieder erste direkte Termine statt.
Der Augenkontakt fehlt
Aber, und das ist ihm wichtig: „Der Goldstandard ist der persönliche Kontakt. Ein ganz wichtiger Faktor ist die persönliche Beziehung. Alle, die jetzt ihre Verwandten lange nicht gesehen haben, merken das. Wenn man sich nicht direkt sieht, fühlt es sich anders an.“ Als weiteren Nachteil der Videositzungen für seine Berufsgruppe beschreibt er den fehlenden Augenkontakt. Dieser fehle bei den Videosprechstunden, weil man auf den Monitor vor sich schaue. „Man muss bewusst in die Kamera schauen, um dem Gegenüber das Gefühl zu geben, ihn direkt anzugucken.“ Dadurch und wegen des fehlenden Blicks auf den gesamten Körper, sei es schwieriger, die nonverbalen Kommunikationszeichen wahrzunehmen. Trotzdem hält Sülz die Video-Möglichkeit für ein „gutes Hilfsmittel“ in diesen Zeiten.
Zur Vereinfachung der Videosprechstunden hatten die Kassenärztliche Bundesvereinigung und der Spitzenverband der Krankenkassen Sonderregelungen beschlossen. Patienten dürfen in unbegrenzter Anzahl digital versorgt werden – bisher war dies auf jeweils 20 Prozent der Patienten und Leistungen begrenzt. Das geht aus einem Praxisinformationsschreiben der Bundesvereinigung hervor. Ohne diese Erleichterung wäre eine vollständige Umstellung wie bei dem Bremer Psychotherapeuten nicht möglich gewesen. Die Neuregelung ist vorerst bis Ende Juni befristet. Die KVHB hat für den Monat März darauf verzichtet, den Praxen die Nutzung eines zertifizierten Ende-zu-Ende verschlüsselten Videodienstanbieters vorzuschreiben. Das ist normalerweise Pflicht. „Zum Ausbruch der Corona-Pandemie hat man die Zügel sehr gelockert“, sagt Sprecher Fox.
Psychotherapeut Sülz beschreibt seine Erfahrung so, wie sie auch andere Berufsgruppen im Homeoffice und mit vermehrten Videokonferenzen gemacht haben dürften: „Man musste sich am Anfang erst hinein finden. Dann ging es für beide Seiten.“ Er und seine Kollegin hätten rund 30 Video- und wenige Telefonsitzungen wöchentlich durchführt. Die Nutzung der Telemedizin sei richtig gewesen, um die Patientenversorgung in Krisenzeiten aufrecht zu erhalten.
Positive Erfahrungen gibt es auch bei den Kinder- und Jugendärzten. In der Praxis von Stefan Trapp werden Videosprechstunden momentan mehrmals wöchentlich genutzt. „Am Anfang wurde die Videosprechstunde mehr in Anspruch genommen, als die Patienten zum Teil sehr verunsichert waren und sich nicht in die Praxis getraut haben.“ Er hält es für hilfreich, per Video etwa einen Ausschlag oder eine Warze direkt anschauen zu können – wenn die Patienten zur Hochrisikogruppe gehörten oder Sorge wegen des Praxisbesuchs hätten.
Keine Angst vor dem Arztbesuch
„Man muss aber keine Angst haben, zum Arzt zu gehen“, versichert er. Durch die Hygieneregeln, weitestgehend ungenutzte Wartezimmer und getrennte Sprechzeiten für Kinder mit und ohne infektiöse Krankheiten sei der Arztbesuch ungefährlich. Trapp nutzt eine für Videosprechstunden zertifizierte und zur Terminverwaltung genutzte App. Damit kann er Patienten aus einem digitalen Wartezimmer aufrufen.
Hans-Michael Mühlenfeld ist Vorsitzender des Bremer Hausärzteverbands und hält Videosprechstunden für nicht sehr verbreitet unter seinen Kolleginnen und Kollegen. Videotelefonie sei bei großen Entfernungen zwischen Arzt und Patient sinnvoll. „Für mich hier in der Stadt heißt es: Ich telefoniere, die Menschen kommen zu mir in die Sprechstunde oder ich besuche sie.“ Der Hausarzt arbeitet bei infektionssensiblen Situationen auch mit Fotos, etwa von Pflegeheimen oder -diensten.