
Danach bricht sie weinend zusammen, weil sie sich dafür schämt: „Ich war einfach so hungrig.“ Die Szene spielt im Jahr 2016 in Newcastle-upon-Tyne, Großbritannien.
„I, Daniel Blake“ (Ich, Daniel Blake) heißt der Film, in dem Katie Hunger hat, die Stromrechnung nicht bezahlen kann und vom Sozialamt die finanzielle Unterstützung gestrichen bekommt, weil sie (unverschuldet) eine halbe Stunde zu spät zum Termin bei ihrem Berater erscheint. Da gibt es keine Gnade, denn Vorschrift ist Vorschrift.
Gedreht hat „I, Daniel Blake“ Ken Loach, 80 Jahre alt und seit fast 50 Jahre der engagierte und unbeirrbare Filmchronist der britischen Arbeiterklasse. Loach ist als Regisseur bewusst parteiisch, ihm geht es immer um den sogenannten kleinen Mann und die sogenannte kleine Frau, das hat er seit seinem ersten Film „Poor Cow“ (1967) bewiesen. Gleichzeitig pflegt Loach einen Stil, der die guten alten Zutaten des italienischen Neorealismus mit trockenem britischen Humor vermengt. Das führt nicht immer zu guten Ergebnissen, weil diese Mischung durchaus ins allzu Vordergründige kippen kann – wie immer, wenn ein Künstler sich einer Sache voll und ganz verschreibt und es vor allem gut meint. „I, Daniel Blake“ ist allerdings rundum gelungen, wohl auch, weil Loach sich erneut auf seinen langjährigen Drehbuchautoren Paul Laverty verlassen konnte, mit dem er bereits Klassiker des Arbeiterfilms wie „Carla's Song“ oder „Looking for Eric“ produziert hat.
Wie der Titel schon sagt, geht es um Daniel Blake, der mit viel Authentizität von Dave Johns verkörpert wird. Der 59-Jährige, der bisher ordentlich seine Steuern gezahlt hat und auch sonst ein völlig unauffälliger Durchschnittsbrite ist, hatte einen Herzinfarkt. Nun hat seine „Gesundheitsdienstleisterin“ ihn als wieder arbeitstauglich eingestuft; sein Arzt sieht das allerdings anders. Daniel Blake gerät daraufhin in einen nicht enden wollenden Kreislauf aus Anrufen, Gesprächen und ihm unverständlichen Entscheidungen des Arbeitsamts. Da der 59-Jährige sich zudem nicht mit Computern auskennt, scheitert er endgültig bei seinem Bemühen, sich an die Vorgaben zu halten. Auf dem Amt lernt er die junge Katie mit ihrer Tochter und ihrem Sohn kennen, die in einer ähnlich prekären Lage ist wie er selbst – sie geben einander Halt.
Loach ist wie immer nah dran seinen Figuren und an den wenig heimeligen Schauplätzen ihres Lebens, doch seinem Film haftet gleichzeitig ein deutlicher Zug ins Absurde an – der sich wiederum schlicht aus der akribischen Schilderung der Vorgänge mit und auf den Ämtern ergibt. Schon im Vorspann wird der Zuschauer Ohrenzeuge eines an bürokratischem Nonsense nicht zu überbietenden Telefonats zwischen Blake und einer Behördenmitarbeiterin, die sich hinter dem Mantra der Vorschriften verschanzt. Dies begegnet Loachs Helden immer wieder und verleiht dem Film ein starkes kafkaeskes Element. Daniel Blake und auch Katie kämpfen dafür, als Individuen wahrgenommen zu werden. Ihnen gegenüber stehen Behördenmitarbeiter, die Phrasen dreschen und auch ansonsten seltsam roboterhaft wirken. Eine einzige Sachbearbeiterin zeigt Mitgefühl, wird dafür aber gleich von ihrer Vorgesetzten gerüffelt.
Ken Loach ist für seine bittere Bestandsaufnahme des englischen Sozialstaats bei den Filmfestspielen von Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet worden, was auf viel Unverständnis gestoßen ist – immerhin ist deshalb Maren Ades Ausnahmefilm „Toni Erdmann“ leer ausgegangen. Doch Loach ist ein würdiger Preisträger. Sein Film ist engagiert und wütend, aber nie überfrachtet mit Sentiment.