
Bremen. Im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses standen die Pariser Vororte zuletzt 2005. Damals entluden sich der Frust über Benachteiligung und die Wut über staatliche Gewalt in schweren Krawallen, Auslöser dafür war der Tod zweier Teenager, die vor der Polizei geflüchtet waren und bei einem Unfall starben. Vor allem Jugendliche, deren Eltern aus den ehemaligen nordafrikanischen Kolonien nach Frankreich eingewandert sind, rebellierten, zündeten Bushaltestellen, Müllcontainer und Autoreifen an und lieferten sich Kämpfe mit der Polizei. In der Folge kam es auch in anderen Städten wie Marseille oder Straßburg zu Ausschreitungen; die Regierung verhängte schließlich das Ausnahmerecht.
15 Jahre später wirft Ladj Ly in seinem Film „Die Wütenden“ einen desillusionierten Blick auf die Banlieue, denn verbessert hat sich seither – nichts. Der Regisseur weiß sehr genau, von was er erzählt, er stammt selbst aus der Gegend, die er beschreibt. Seine Eltern kommen ursprünglich aus Mali. Der Originaltitel des Films lautet „Les Misérables“ in Anspielung auf den gleichnamigen Roman von Victor Hugo. Seinen 1862 erschienenen Wälzer, der es zu mehreren Verfilmungen und einem sehr erfolgreichen Musical gebracht hat, hat Hugo in Montfermeil geschrieben, das damals noch ein Dorf war. Arm, entrechtet und wütend waren dessen Bewohner aber schon im 19. Jahrhundert.
Von Victor Hugos Roman hat auch der Polizist Stéphane Ruiz (Damien Bonnard) gehört, „weil es auf der Website von Montfermeil steht“, wie er zu seinen beiden Kollegen sagt. Ruiz hat sich nach Paris versetzen lassen, um seinem getrennt von ihm lebenden Sohn nah zu sein. Nun fährt er mit dem hitzköpfigen Chris (Alexis Manenti) und dem eher auf Ausgleich bedachten Gwada (Djibril Zonga) Streife in Montfermeil, dem 93. Arrondissement der französischen Hauptstadt. Und als Zuschauer sitzt man quasi mit im Auto und erlebt das Viertel aus der Novizen-Perspektive von Stéphane Ruiz, der zunächst schweigsam und abwartend agiert.
Zunächst scheint der Film keine wirkliche Handlung zu haben. Das Trio fährt Streife in dem stark verwahrlosten Viertel mit den gleichförmigen und heruntergekommenen Hochhauskästen, dem omnipräsenten Müll und Gerümpel – willkommen in der Trostlosigkeit. Ladj Ly hat viel mit der Handkamera gedreht und Bewohner Montfermeils als Laiendarsteller engagiert. Der Film wirkt dadurch sehr nah dran am Leben. Und: Er macht es sich nicht leicht, er ergreift für keine Seite Partei, und er verbreitet auch keinen Sozialkitsch à la Ken Loach. Und so sind die Polizisten zwar die Fremdkörper im Viertel, aber sie sind nicht die Bösen.
Ruiz, der sich hier genauso korrekt verhalten möchte wie bei seiner letzten Stelle in der Provinz, ist zunehmend schockiert: Angst, Misstrauen und Verachtung schlagen ihm und seinen Kollegen entgegen. Das ist zwar nicht ganz grundlos, weil Chris gerne mal den Macker heraushängen lässt („Ich bin das Gesetz!“), letztlich hat er aber eigentlich nichts und niemanden im Griff. Denn das Viertel ist fest in der Hand rivalisierender Interessenvertreter, der Staat scheint Terrain wie Bewohner aufgegeben zu haben. In Montfermeil wird nur noch verwahrt. Der von der Stadt eingesetzte „Bürgermeister“ ist mindestens halb-korrupt, die Muslimbrüder haben längst einen Fuß in der Tür, diverse Gangs machen in Drogen und Prostitution. Über ein Wort wie Chancengleichheit können die Kinder und Jugendlichen hier nur lachen. Wenn sie es denn überhaupt schon einmal gehört haben.
Die Atmosphäre ist derart dauer-angespannt, dass es nur einen Funken braucht, damit alles explodiert. Das ist der Fall, als Jugendliche ein Löwenjunges aus einem Zirkus stehlen und der darauffolgende Polizeieinsatz außer Kontrolle gerät: Die Beamten werden von Steine werfenden Jugendlichen bedrängt, Gwada verliert die Nerven und verletzt ein Kind. Und dann filmt der kleine Buzz (Ladj Lys Sohn Al Hassan) die Szenerie auch noch mit einer Drohne – quasi als Alter Ego des Regisseurs. Der hatte 2005 mit einem Dokumentarfilm über die Zeit nach den Krawallen seine Karriere begonnen („365 Tage in Clichy-Montfermeil“).
„Die Wütenden“ steht in der Tradition von Filmen wie „Tee im Harem des Archimedes“ oder „La Haine“ und hat 2019 bereits den Preis der Jury beim Filmfestival in Cannes gewonnen. Nun geht er für Frankreich ins Rennen um den Oscar als bester nicht-englischsprachiger Film. Der ist ihm unbedingt zu gönnen.
Der Film ist ab Donnerstag in den Bremer Filmkunsttheatern zu sehen.