
Herr Plewka, am 13. März spielen Selig im Club 100 ein Konzert auf einer echten Bühne, in einer echten Konzerthalle, aber ohne Publikum. Haben Sie so etwas zuvor schon einmal gemacht?
Jan Plewka: Wir kennen das vom Soundcheck. Da probt man auch nur vor einigen Saalhelfern. Aber in der Form haben wir das noch nie gemacht. Wir freuen uns aber tierisch, wieder auf einer Bühne stehen zu können. Klar gehört das Publikum zu jedem Konzert dazu, aber ich glaube, unsere Schwingungen werden auch durch die Bildschirme gehen und alle selig machen.
Warum haben Sie sich entschieden, bei dem Experiment mitzumachen?Wir haben seit einem Jahr Berufsverbot. Unser letztes Konzert war im Stadtpark, auch schon unter Corona-Bedingungen. Da saßen 1000 Leute auf Plastikstühlen in einem Park, der eigentlich für 5000 Leute gedacht ist. Das ist schon was anderes, so zu performen. Aber das Konzert war gigantisch, weil wir wussten: Das ist vielleicht der letzte Auftritt für längere Zeit. Das war sehr intensiv, und ich glaube, dass das Konzert in Bremen auch sehr intensiv sein wird.
Sie stellen im Pier 2 Ihr neues Album „Myriaden“ vor. Warum heißt das Album, wie es heißt?Ich finde, das ist so ein schöner, mystischer Begriff. Er ist mir in den Kopf gekommen, als ich am Strand lag im Sommer. Über mir die unendlichen Weiten. Da waren unzählige Sterne, das war so magisch. Und ich wollte ein Wort finden für diese Unzähligkeit, und da kam das Wort Myriaden ins Spiel. Es ist auch ein anderes Wort für Unendlichkeit, und viele unserer Albentitel seit der Reunion – „Und endlich unendlich“, „Von Ewigkeit zu Ewigkeit“, „Magma“ – spielen mit Begriffen der ewigen Weite.
Der Titelsong „Myriaden“ ist aber auch negativ behaftet...Ja, weil so viele Sterne über uns aufgehen, so viele Bildschirme sehen die Sterne auf unserem Planeten. Eine Bildschirmsucht, die uns von unserer menschlichen Sinnlichkeit, unserer Konzentration und unserem Dasein ablenkt. Wir sind eigentlich gar nicht mehr da und kaum noch zu erreichen. Wir gehen schon aneinander vorbei, können uns nicht mehr beruhigen und treiben in die Raserei.
Woran machen Sie das fest?In den 90ern haben wir Videoclips gedreht, die waren genauso lang wie das Lied. Und man saß vor MTV und hat sich die Clips angesehen. Das würde heute keiner mehr ertragen, weil es nicht schnell genug geht. Instagram-Hipster kürzen ihre Videos auf 51 Sekunden. Die Forschung sagt, wenn diese Entwicklung so weitergeht, haben wir in ein paar Jahren eine Aufmerksamkeitsspanne von neun Sekunden, das ist etwa so viel wie bei einem Goldfisch. Wir haben die alte Zeit noch miterlebt. „Myriaden“ ist sehr nostalgisch, und die ganze Platte ist ein Liebesbrief an den Planeten und unser Miteinander.
Die Klimakrise, die Schnelllebigkeit unserer Gesellschaft – alles Themen, die sich wie ein roter Faden durch das Album ziehen. Sind Ihre Songs auch ein Appell an die Zuhörer, die Dinge zu ändern?Ja. Wir stehen gerade vor einer wahnsinnig wichtigen Wahl. Und wir sollten alle das Klima wählen. Alle Parteien sollten mindestens zwei Seiten in ihrem Parteiprogramm darüber schreiben, wie sie Klimaziele erreichen wollen. Wenn wir das nicht schaffen, fließt die Badewanne über. Klimaflüchtlinge, weitere Pandemien. Dann war‘s das. Die jetzige Pandemie war ein Warnschuss. Und viele wachen gerade auf. Es gibt also Hoffnung, und die ist auf unserem Album auch zu hören.
Diese Hoffnung zieht sich trotz der ernsten Themen durch das gesamte Album, die meisten Songs sind sehr positiv und leicht. Wie gelingt dieser Spagat?Durch die Musik. Früher haben wir uns im Probenraum über Drogen, Rock ’n’ Roll und Mädchen unterhalten, heute unterhalten wir uns eben über gesellschaftspolitische Themen und darüber, wer das geilste Hochbeet hat. Die Musiklandschaft ist so vielseitig geworden, und wir lassen uns durch alles inspirieren. Auf dem Album findet man einen Funk-Song, ein Pop-Chanson – wir haben uns an allem bedient, und es ist trotzdem eine Selig-Platte mit Selig-Sound geworden.
Sie haben zwei Jahre an dem Album gearbeitet und 96 Songideen gesammelt. Wie trifft man da eine Auswahl?Das dauert mehrere Tage. Man muss sich das vorstellen, wie wenn man alte Fotos aussortiert. Es war nicht einfach, aber es sind nur die Sachen geblieben, die uns vor Freude entflammt haben.
Haben Sie einen persönlichen Lieblingssong?Das wechselt täglich. „Myriaden“ mag ich sehr, vor allem die Zeilen „auf regennasser Straße/ an irgendeinem April-Tag / du mit Champagner in der Tasche / in einem viel zu großen Parka / und ich weiß noch, der Fotograf, wie er gelacht hat / als er dieses Foto von dir gemacht hat. Der Fotograf war natürlich ich. Das sind Zeilen aus der alten Zeit, die mir wirklich die Tränen in die Augen treiben. Es gibt auf der Platte aber auch ein erwachsenes „Ohne dich“, das heißt „So lang gewartet“. Und auch „Süßer Vogel Jugend“ mag ich sehr gerne, weil es mich zurückbeamt in unbeschwerte Zeiten, als wir am See waren und den ganzen Tag Musik gemacht, geknutscht und Bier getrunken haben.
Ich höre da eine gewisse Melancholie...Ja, die Welt hat sich verändert, und mir tun meine Kinder wirklich leid. Das Aufregendste ist, mal mit einer Freundin spazieren zu gehen. Das macht mich traurig. Es ist wichtig, da positiv zu bleiben und Verständnis zu zeigen.
Das Streaming-Konzert soll zumindest ein Stück der alten Zeit zurückbringen. Worauf können sich die Teilnehmer freuen? Wird es ein reines Album-Release?Nein, es wird ein Selig-Konzert, wie man es seit den 90ern kennt, eine Mischung aus Jam-Session, alten Hits, neuen Liedern und einer guten Lichtshow. Und mit einer Band, die sich dem Moment hingibt und alles macht, um jeden Ton und jedes Wort so rüberzubringen, wie es gemeint ist. Wir werden unser Publikum nicht sehen, aber spüren - ein bisschen wie in einer Peepshow.
Das Gespräch führte Alexandra Knief.Jan Plewka (50)
singt seit den 1990er-Jahren bei der Hamburger Rockband Selig, die sich zwischenzeitlich trennte, aber 2008 ihr Comeback feierte. Mit „Myriaden“ erscheint nun das fünfte Album seit der Wiedervereinigung.
Das Projekt Club 100
Seit Mitte Januar treten im Pier 2 wieder Künstler und Künstlerinnen auf. Möglich macht dies das Projekt Club 100. Das Konzept ist so simpel wie innovativ: Lokale Veranstalter haben sich zusammengetan, ihre Veranstaltungen werden gestreamt, Interessenten können Tickets für den Stream online kaufen. Sobald die Coronamaßnahmen es erlauben, wird zusätzlich Live-Publikum im Pier 2 zugelassen. Die Realisierung der Streams wurde mit rund 245.000 Euro gefördert, mittlerweile hat der Senat 90.000 Euro nachgelegt, damit alle Konzerte auch übertragen werden können. Laut Julia von Wild aus dem Club 100-Team werde das Angebot bisher sehr gut angekommen. Die Anzahl der verkauften Streamingtickets entspreche etwa der Anzahl der Tickets, die man für die jeweilige Veranstaltung vor Ort hätte verkaufen können. Rund 1000 Menschen haben sich das Milliarden-Konzert im Februar angesehen, das sonst im Schlachthof stattgefunden hätte, fast genauso viele waren es beim Auftritt von Pohlmann. Auch das Feedback von Künstlern, Veranstaltern und Zuschauern sei positiv, so von Wild. „Darum würden wir das Projekt gerne verlängern“, sagt sie. Ein Konzept für einen Club 100 Open-Air habe man bereits eingereicht.
Streaming-Tickets für das Selig-Konzert am 13. März und Infos zu allen weiteren Konzerten des Club 100 unter www.club100-bremen.de. Das neue Selig-Album „Myriaden“ erscheint am 12. März.