
Eine womöglich griechische All-Inclusive-Landschaft mit direktem Blick auf ein seltsam geronnenes Meer. Zentrale Requisiten der von Katharina Pia Schütz bestückten Bühne sind eine Sitzlandschaft und ein Fernsehgerät. Testbildgleich zeigt es einen Ausschnitt des stockenden Meeres, das hinter zwei Fenstern und vor der dreieckigen Miniatur-Spielfläche liegt.
Auf den ersten Blick ein heimeliger Ort zum Wohnen, Dämmern, Liegen; alternativ: Lügen. Oder wie es in Friedrich Hölderlins merkwürdig missratener „Ödipus“-Übersetzung nach Sophokles heißt: „Denn süß ist es, / Wo der Gedanke wohnt, entfernt von Übeln.“
Auftritt Ensemble. Sieben auf einen Streich entern für 70 Minuten das Inselchen. Verlassen werden sie es erst für den kräftigen Schlussapplaus. Elke von Sivers hat ihnen Kostüme auf die europäischen Leiber geschneidert, die mal antike Akzente setzen, mal an prekäre Chips-und-Glotze-Gemeinschaften der Gegenwart denken lassen.
So trägt Haimon (Bastian Hagen) ein dem klassischen Chiton nachempfundenes Gewand, Antigone (Mirjam Rast) sozusagen ein Marzahn-Modell mit reichlich Rosa, Kreon (Robin Sondermann) gewissermaßen einen historischen Kompromiss zur Schau: Shorts, Zuhälterbrille, Badelatschen, Hoodie mit Euro-Sternchen, Turmfrisur mit Haarband.
Das Prinzip Anachronismus
Auch sonst geben aparte Anachronismen den durchgängig flotten Takt vor: Für Felix Rothenhäuslers pointierte Inszenierung von „Ödipus/Antigone“ hat Jan Eichberg nach Sophokles eine gewitzte Textfassung aus den ersten beiden Dramen der sogenannten Thebanischen Trilogie erstellt.
Eine zwar skelettierte, dafür aber anderweitig stark angefütterte Version, in der heutiger Alltagsjargon ebenso krass echot wie Lyrik des 20. Jahrhunderts (Paul Celans „Todesfuge“), Rauschgepflogenheiten abhängiger oder/und abgehängter Familien, Seelenschürfmethoden leidgeprüfter Freud-Adepten, Märtyrer-Rezeption von Polyneikes bis Anis Amri. Eichberg kann Eintopf. Der Filmemacher, der schon Rothenhäuslers rasante „Mr. Robot“-Adaption segensreich in Textform gebracht hat, kennt den Ping-Pong-Sound der Sitcom, den das vornehmlich statuarische Tableau wie beiläufig der Stichomythie der Sophokles-Verse anverwandelt.
Entsprechend sind die zumeist textsicheren Schauspieler keine Akteure im strengen Sinne. Handlungsstränge wie, nun ja, Erhängen, Selbstverstümmelung und Zwangsexil stellen sie rein rhetorisch vor im vorzugsweise (und vorzüglich!) monotonen Singsang einer schrecklich telegenen Familie mit tollen tumben Blicken.
Iokaste (Verena Reichhardt) enerviert dieses fragile Kollektiv noch posthum als Geist; Ödipus (Johannes Kühn) weicht auch nach seiner Verbannung nicht von der Stelle; der zwischen Psychoanalytiker und Psychopath mäandernde Theresias (Siegfried W. Maschek) muss nicht eigens angerufen werden, um sich als Medium zu verdingen. Diese genüssliche Dekonstruktion von Sprechhandlungen treibt viel höheren Blödsinn hervor, stiftet aber auch Erkenntnisse.
Gesten und Worte laufen zuverlässig ins Leere
Das liegt auch an den grandiosen Gitarren-Interventionen, mit denen Matthias Krieg bald jeden Satz kommentiert, hinterfragt, ins Absurde steigert. Was vergangenes Jahr bei Rothenhäuslers Vivisektion des Henrik-Ibsen-Dramas „Nora oder ein Puppenheim“ noch zum Scheitern beitrug, als unablässige Einspielungen von Applaus, Lachern und Jingles den Fluss des gleichfalls medienkritisch gestimmten Dramas zerhackten – hier wird's Ereignis.
Das Unzulängliche des Unterhaltungsbetriebes, wie es in dieser satirisch gestimmten Sitcom vorgeführt wird, in der Gesten und Worte zuverlässig ins Leere laufen, besteht in der Einebnung von Kommunikation, Interaktion und Affekten. Um nicht zu sagen: Ungeheuer ist viel und nichts ungeheurer als das gründlich von Jammer und Schauder gereinigte Mediengeschäft der Jetztzeit.
Das mag einer der Gründe sein, warum Rothenhäusler so gern mit Robin Sondermann zusammenarbeitet, der an diesem Abend die meisten Sprechanteile gehabt haben dürfte. Wie in der Bremer Schauspielsparte allenfalls Siegfried W. Maschek vermag der Neu-TV-Kommissar („In Wahrheit“) Ungeheuerlichkeiten so harmlos und bübisch, so jovial und mildernd zu intonieren, dass eben noch aufgerissene Abgründe binnen kurzer Zeit wieder verschwunden, ja perdu scheinen.
Es war Hölderlin, der in seinen Anmerkungen zur „Antigonä“ darauf hinwies, dass es außer der Wechselrede keine Tragik gebe. Sehenswert, wie tragikomisch Rothenhäusler und sein Team dieses Diktum auslegen.