
Bremen. „Hi, ich habe keinen Bock mehr, dich Tagebuch zu nennen. Deshalb sage ich jetzt mhm… Phillipp zu dir. Das hat den Grund, dass ich diesen Namen liebe, weil ein so süßer Junge aus meiner Klasse so heißt. Er ist so gentil (französisch).“ Das hat Johanna als Teenager in ihr Tagebuch, Verzeihung, ihren Phillipp geschrieben. Im April hat sie in Berlin aus diesen Niederschriften ihres tiefsten pubertären Inneren vorgelesen – 19 Jahre nachdem sie die Worte verfasst hatte.
„Texte von gestern“ heißt das Format, bei dem sich Erwachsene treffen, um Texte vorzulesen, die sie als Kind, Jugendlicher oder junger Erwachsener geschrieben haben. Das können Tagebucheinträge sein, aber auch Schulaufsätze, Briefe, Gedichte, Kurzgeschichten – oder was sonst noch in den Tiefen des Dachbodens zum Vorschein kommt. Erst vor Kurzem habe jemand sein Schreiben zur Wehrdienstverweigerung vorgelesen, berichten die Moderatoren. Ins Leben gerufen wurde die Veranstaltungsreihe vor rund einem Jahr in Berlin von Marco Ammer und Johanna Steiner. Am kommenden Wochenende findet sie erstmals in Bremen statt.
2016 wurde Steiner auf den kanadischen Podcast „Grownups Read Things They Wrote as Kids“ aufmerksam. Ihr fiel auf, dass es im englischsprachigen Raum zahlreiche Formate gibt, für die Erwachsene aus alten selbstverfassten Texten vorlesen. „In Deutschland war das aber noch kaum vorhanden und wenn, dann meist nur beschränkt auf Tagebuch-Lesungen“, sagt Steiner. „Darum habe ich gedacht: Wir müssen da was machen!“ Also holte die Autorin und Regisseurin von Hörspielen und Live-Hörspielen den Moderator und Synchronsprecher Marco Ammer mit ins Boot, mit dem sie die Lesereihe nun moderiert. Oftmals, so Steiner, hätten solche Veranstaltungen allerdings einen negativen Ton, das Schämen über frühe literarische Texte stünde im Vordergrund. „Genau das wollen wir nicht“, sagt die Moderatorin. Natürlich könne man auch gemeinsam über die vorgetragenen Texte lachen, aber ausgelacht werde bei „Texte von gestern“ niemand. „Es ist großartig, zusammen zurückzuschauen. Da gibt es nichts, weshalb man sich schämen muss“.
Acht bis 15 Teilnehmer können pro Termin ihre Texte vorlesen. Ist am Ende des Abends noch Zeit, lesen die Moderatoren auch mal selbst alte Werke vor. „Mitgehangen, mitgefangen“, sagt Steiner. Auch Lisa stand bereits in Berlin auf der „Texte von gestern“-Bühne und las eine berührende Geschichte über eine Schafherde vor, die jeden Abend über einen Zaun springen muss, damit die Menschen sie zählen und dabei einschlafen können. Schaf 147 erlitt dabei ein besonders trauriges Schicksal. Geschrieben hat sie die Geschichte, als sie 17 Jahre alt war und während eines Auslandsaufenthalts in Brasilien selbst nicht einschlafen konnte.
Robert gab ein Märchen über einen Jungen mit lockigem Haar zum Besten, das er im Alter von 15 Jahren einer Freundin Satz für Satz beim einst sehr gefeierten Nachrichtendienst ICQ geschrieben hat. Caroline zum Beispiel las einen Brief mit Tipps und Anweisungen vor, den sie mit fünfzehn Jahren an ihr 25-jähriges Ich geschrieben hat. „Die Abwechslung macht's“, sagt Ammer. „Die Veranstaltung lebt von den Leuten.“ Er selbst freue sich immer besonders darüber, wenn Grundschulaufsätze mit all ihren Fehlern vorgelesen werden oder Tagebucheinträge aus Zeiten vor der Pubertät. „Da geht mein Herz auf“, so Ammer.
Im Berlin, Dortmund und Köln waren Steiner und Ammer mit ihrem Format bereits unterwegs. Nun ist mit Hamburg und Bremen der Norden dran. Mitmachen kann jeder. Die einzigen Regeln: Es müssen mindestens zehn Jahre seit dem Verfassen des Textes vergangen sein und der Autor darf zum Zeitpunkt des Schreibens nicht älter als 25 Jahre alt gewesen sein. Außerdem dürfen Autoren nur eigene Texte vorlesen und die Länge sollte sieben Minuten nicht überschreiten. „Und natürlich dürfen die Texte keine rassistischen oder sexistischen Inhalte haben“, sagt Steiner.
Wie die Geschichte mit Johanna und ihrem Schwarm Phillipp ausging? Ziemlich chaotisch, so viel sei verraten. Und auch Corinna (Tagebucheintrag: „P.s. I hate Corinna“) hatte ihren Anteil daran. Nachzuhören ist dies und alles weitere online. Denn ein rund 30-minütiges Best-Of von jeder Veranstaltung wird im Anschluss als Podcast zur Verfügung gestellt.
Ob die Pilot-Veranstaltungen in Bremen am Sonnabend eine einmalige Sache bleibt? „Wenn es gut läuft, kommen wir gerne jede Woche nach Bremen“, sagt Steiner und macht gleich noch ein bisschen Eigenwerbung: „Wir sind die beste Gelegenheit, um nach einem tollen Abend mit warmen Herzen und einem Lächeln im Gesicht nach Hause zu gehen.“
13. Oktober, 20 Uhr, im Kukoon, Buntentorsteinweg 29. Abendkasse elf Euro. Für Teilnehmer und eine Begleitung ist der Eintritt frei. Anmeldung (ideal: bis Donnerstag) online unter www.textevongestern.de/mitmachen.