
Ein Haus mit ein paar Korbmöbeln auf der Terrasse, Tannen im Garten und ein Mittelklassewagen in der Einfahrt. Alles schön in Ordnung hier, und doch ist Ruggiero dies nicht genug. Er hat das solide Festland verlassen und ist der Geliebte der Zauberin Alcina, die über eine Insel herrrscht. In weißem Anzug und mit Blumen geschmückt wandelt er durch dieses Reich, in dem die Herrscherin mit einer Handbewegung riesige Schmetterlinge und Blüten erscheinen lassen kann. Ein Reich der der Illusion, des Rausches. Der Liebe? Vielleicht. Des Begehrens? Auf jeden Fall. Doch dann taucht Ruggieros Verlobte Bradamante auf, um ihren Zukünftigen zur Vernunft zu bringen.
Mit „Alcina“ bringt das Theater Bremen eine der letzten der ungefähr 40 Opern von Georg Friedrich Händel (1685-1759) auf die Bühne. Als Vorlage diente einmal mehr Ariosts 1516 erschienener Roman „Orlando furioso“ (Der rasende Roland) – ein Steinbruch für diverse Opern der Zeit. Es sind zwei Dinge, die „Alcina“, uraufgeführt 1735, attraktiv erscheinen lassen für heutige Theatermacher: Händel zeichnet das musikalisch differenzierte Porträt einer Frau, die ganz tief fällt. Und es geht darum, ob nun die Vernunft – also das Haus und der Mittelklassewagen – oder das Gefühl – also die Schmetterlinge und Blüten – die Oberhand haben sollten im Leben.
Am Goetheplatz hat Regisseur Michael Talke sich mit wunderbar leichter Hand dieses Stoffs angenommen und daraus eine bei ihrer Premiere am Sonntag umjubelte Version gefertigt, die zudem von viel Zwischenapplaus für sängerische Einzelleistungen begleitet wurde. Zu recht. Alles an dieser drei Stunden dauernden, temporeichen und kurzweiligen Produktion ist gelungen, weil alles einfach großartig aufeinander abgestimmt ist. Das beginnt beim Bühnenbild und den Kosümen: Thilo Reuther hat für die vernunftgepolte Vorstadthölle ein schwarz-weißes Ensemble entworfen, das wie die 3-D-Version einer Graphic-Novel aussieht. Hier trägt man vorzugsweise grau (Kostüme: Regine Standfuss).
Alcinas Welt dagegen ist kreischbunt und so gar nicht statisch. Es fahren barocken Stilleben nachempfundene Prospekte auf und nieder, an Plastikblumen herrscht kein Mangel, rosa und rot sind hier die Farben der Kostüme, die neckisch gerüscht sind. Nerita Pokvytyté als Zauberinnen-Schwester Morgana trägt zudem pinke Plateausneaker, die der Traum jeder Elfjährigen sein dürften.
In dieses muntere Setting platziert Talke sein Ensemble. Nun war die Opera seria, zu der „Alcina“ zählt, rund um Da-capo-Arien angelegt, in denen der erste Teil zum Schluss wiederholt wird, damit die Sängerinnen und Sänger mit ihrem Können glänzen konnten. Handlung war nicht vorgesehen, nur eine Abfolge emotionaler Ausbrüche und Wirrnisse, gespiegelt in den Liedern.
Das ist heute so nicht mehr vermittelbar, und auch Talke macht von Anfang an mächtig Alarm auf der Bühne und entwirft quasi als Hintergrundprogramm für die Arien konzentrierte Kabinettstückchen, die gerne auch mal pantomimisch oder tänzerisch daherkommen. Dies wiederum ist eine augenzwinkernde Hommage an die ursprünglich nach französischem Vorbild zusehends mit Ballettszenen gespickte Barockoper. Immer wieder treiben sich die von Alcina zu Tieren verzauberten, abgelegten Liebhaber auf der Bühne herum.
Die Masken werden ihnen in einer Art unterirdischem Fetischstudio übergestülpt. Nerita Pokvytyté und Luis Olivares Sandoval als ihr eifersüchtiger Liebhaber Oronte bilden den komischen Gegenpart zu den immer dramatischer werdenden Verwicklungen rund um Alcina, Ruggiero und Bradamante (zum ersten Mal als Gast am Theater Bremen: Candida Guida). Die hat sich zudem als Mann verkleidet und so Morgana bezirzt. Im Zentrum des Ganzen stehen aber Marysol Schalit und Ulrike Mayer als sich langsam voneinander entfernendes Paar.
Marysol Schalit überstrahlt alles mit ihrer eindringlichen Interpretation der Zauberin, die ihre Kraft und Jugend verliert, weil sie zum ersten Mal aufrichtig liebt und zurückgewiesen wird. Mit ihrem starken, klaren und wandlungsreichen Sopran meistert sie mühelos auch die schwierigsten Koloraturen und Intervallsprünge. Ihre Interpretation des schmerzensvollen „Ah! Mio cor“ gerät in ihrer sängerischen wie darstellerischen Intensität zu einem der Höhepunkte des Abends. Das gilt grundsätzlich für den ihr auferlegten Wandel von der grausamen Schönheit zur verzweifelten Verstoßenen, die nur noch auf Schmeißfliegen und Kröten blickt statt aauf Schmetterlinge.
Weniger Nebenrolle denn zweite Hauptrolle spielt Ruggiero, von Ulrike Mayer mit vollem und versiertem Alt differenziert gesungen. Ein Opfer ist dieser Ruggiero nicht, eher ein „Waschlappen“, wie ihn seine Verlobte schon mal bezeichnet, die daher „stinkwütend“ auf ihn ist. Ruggiero lässt sich von Alcina bezaubern und dann von Bradamante wieder zurückschleppen ins traute Heim. Ulrike Mayer singt und spielt ihn als fantasie- wie mutlosen Opportunisten.
Die dritte Hauptrolle spielen klar die in kleiner Besetzung angetretenen Bremer Philharmoniker samt Continuo-Gruppe, die Marco Comin mit bewundernswerter Präzision dirigiert. Den Farbenreichtum der Händelschen Musik arbeitet er fein heraus. Alcina übrigens triumphiert zum Schluss doch noch über Treue, Vernunft und Vorstadthölle. Ein Sieg der Liebe? Vielleicht. Des Begehrens? Auf jeden Fall.
Die nächsten Termine: 15., 23. November, 6. Dezember, 19 Uhr, 15. Dezember, 18 Uhr.