
Den Satz „Ich sehe tote Menschen“ kennen viele noch aus dem Film „The Sixth Sence“. Doch Jamie Conklin, der Protagonist aus Stephen Kings neuestem Roman „Später“, stellt gleich zu Beginn klar, dass er zwar auch tote Menschen sehen kann, dass es bei ihm aber völlig anders abläuft, als bei dem kleinen Jungen aus dem Film mit Bruce Willis.
Dabei ist auch er noch sehr klein, als er zum ersten Mal bemerkt, dass er über eine besondere Gabe verfügt. Als er mit seiner Mutter an einem Unfall im Central Park vorbeifährt, winkt ihm der Radfahrer, der dabei ums Leben gekommen ist und dementsprechend mitgenommen aussieht, plötzlich vom Straßenrand aus zu - und Jamie muss sich erst einmal übergeben. Seine zweite Begegnung ist da schon harmloser: Mrs. Burkett, seine verstorbene Nachbarin, begegnet ihm im Treppenhaus. Und hier lernt Jamie: Tote müssen immer die Wahrheit sagen. Warum sonst hätte Mrs. Burkett ohne Skrupel das Truthahnbild beleidigt, das der Sechsjährige gerade in der Schule gemalt hat und auf das er ziemlich stolz ist?
Jamie kommt damit klar, dass er mit Toten sprechen kann. Immerhin tun sie ihm ja nichts und - auch das lernt er schnell - spätestens ein paar Tage nach ihrem Ableben verschwinden sie eh von ganz alleine. Warum sich also Sorgen machen? Auch seine Mutter hat mittlerweile verstanden, was ihr Sohn kann, versucht aber die Sache runterzuspielen. Ganz nach dem Motto: Das verwächst sich schon in der Pubertät. Tut es allerdings nicht. Und irgendwann kommt der Tag, an dem einer der Toten nicht verschwindet. Und ziemlich wütend auf Jamie ist.
Wieder einmal schreibt King aus der Sicht eines - wenn auch mittlerweile erwachsenen - Jungen. Wieder einmal muss ein Kind sich mit einem übernatürlichem Bösen auseinandersetzen und ist gleichzeitig auch noch von genügend irdischem Bösen umgeben. Nun könnte man King vorwerfen, dass ihm die Ideen ausgehen und er lediglich alte Einfälle („Es“, „Der Outsider“) recycelt. Das würde dem Autor allerdings nicht gerecht werden, gelingt es ihm doch wie eh und je trotz gewisser Parallelen zu anderen Büchern etwas völlig Neues zu schaffen, das nur schwer aus der Hand zu legen ist. Der Titel des Romans - der für King-Verhältnisse mit rund 300 Seiten ungewöhnlich kurz geraten ist - spielt darauf an, wie oft im Leben wir Dinge erst zu einem späteren Zeitpunkt begreifen. Und dass uns nichts weiter bleibt als zu hoffen, dass später nicht zu spät ist.
Stephen King: Später. A. d. Engl. v. Bernhard Kleinschmidt. Heyne Verlag, München, 304 Seiten, 22 €.