
Vehementer Wind weht über Worpswede. Jede Bö trotzt den beiden kräftigen Birken, die zwischen den beiden mit Reet gedeckten Fachwerkhäusern im Schluh stehen, an diesem frühen Oktobernachmittag mehr Laub ab. In wenigen Tagen dürften sie kahl sein. Auch der Bauerngarten, dessen Wiederherstellung die örtliche Naturschutzbund-Gruppe ab dem Jahr 2014 dank Mitteln aus der niedersächsischen Bingo-Umweltstiftung mit viel Engagement betrieben hat, wirkt saisonal angemessen gereift; desgleichen die schmucke Streuobstwiese (samt Nistkästen) und der lauschige renaturierte Teich, dem die Schöpferin dieses pittoresken Arrangements, die begabte Schneiderin, ausdauernde Applikationsstickerin und smarte Lehrertochter Martha Vogeler, geborene Schröder, weiland die Form einer Acht zugedacht hatte.
Tempi passati. An diesem Tag hallt die Luft in dieser ansonsten ausgesprochen friedlichen Weltgegend von schwerem Baumschnittgerät wider. Die Anrainer, so scheint es, wollen ihre großzügigen Anwesen beizeiten herbst- und winterfest machen. Vereinzelte Eichhörnchen nötigt das naturgemäß zu strategischen Ortswechseln, und auch die Esel und Ziegen auf der Weide schräg gegenüber des Schluh-Areals wirken beim Aufheulen der Motoren dezent aufgescheucht. Der Eindruck eines unzeitgemäßen Idylls bleibt gleichwohl bestehen.
Recht so. Denn das aus drei Museumsgebäuden bestehende Ensemble, das unter dem Namen Haus im Schluh firmiert, ist neben dem Barkenhoff, der Großen Kunstschau und der Kunsthalle eine der vier magistralen Ausstellungsstätten der Künstlerkolonie, die seit 2011 ein keckes W (wahlweise wie Worpswede, Weltdorf oder Weyerberg) im vermeintlich zeitgemäß gepimpten Logo trägt. Wie auch immer: Weil die Niedersachsenhäuser, für deren Schauwert regional sinnige Werkzeuge wie Pfluggerät und Torfkahnpaddel befestigt wurden, nicht zuletzt dank der Dauerausstellung („Martha und Heinrich Vogeler – Die Geschichte einer Sammlung“) ein integraler Bestandteil des Museumsverbunds Worpswede sind, verdienen sie besondere Zuwendung. Schon wegen ihrer historischen Bedeutsamkeit im Zeichen der Sippe. Schließlich ist das Haus seit seiner Gründung, die sich 2020 zum 100. Mal jährt, familiengeführt – mittlerweile in der vierten Generation; seit 2003 im Rahmen der Heinrich-Vogeler-Stiftung, die durch einen zehn Jahre zuvor begründeten Freundeskreis Haus im Schluh Unterstützung erfährt.
An diesem Sonntag enden neben der zentralen Jubiläumsschau zum 100. Geburtstag der Kunsthalle Worpswede komplementäre Ausstellungen im Künstlerdorf. „Hans-Herman Rief, Fritz Netzel und die Worpsweder Kunsthalle“ heißt der als Kabinettsausstellung in den hohen und lichten Räumlichkeiten des Erweiterungsbaus realisierte Beitrag des Hauses im Schluh, das seit Ende Juni die gedeihliche Zusammenarbeit zwischen dem einflussreichen Sammler Rief und dem jungen Galeristen in Szene setzte.
Doch nach dem Jubeljahr ist vor dem nächsten. Es betrifft zuallererst Martha Vogeler (1879-1961). Deren Ehe war seit 1913 „physisch getrennt“, wie sie es diplomatisch nannte. Doch zunächst willigte Heinrich Vogeler (1872-1942) nicht in eine räumliche Trennung ein. Bereits 1919 war Martha mit ihren drei erwachsenen Töchtern auch deshalb in den hinteren Teil des Barkenhoffs gezogen, weil die Brüche in der Beziehung zum Künstler immer offener zu Tage traten. Gegen Jahresende wagte die couragierte Frau einen entscheidenden Schritt: Mithilfe des Kaufmanns Paul Lehmann, der ab November 1919 Geld zum Erwerb eines großen Grundstücks im Schluh zur Verfügung gestellt hatte, betrieb Martha Vogeler, die ihre Schulden mit dem Verkauf von Gemälden beglich, die Wiederrichtung eines niedersächsisches Fachwerkhauses. Die Moorkate hatte sie in dem Dorf Lüningsee bei Lilienthal „auf Abbruch“ erstanden.
1920 erfolgte der Umzug Martha Vogelers und ihrer Töchter. Heinrich Vogeler wirkte – zumindest laut Papierform – gefasst ob der räumlichen Abwendung seiner einstigen Muse, die er in seinem Frühwerk zwischen malerischem Birkenhain und stilisierten Märchenposen nahezu unablässig gemalt hatte. Und er gab sich großzügig: „Nehmt was ihr braucht, um ein neues Leben aufzubauen, sagte ich. Ein Bett, den Bechsteinflügel von Löhnberg und einen Bücherschrank lasst mir“, gibt er schriftlich zu Protokoll. Martha tat wie ihr geheißen. Die Räume ihrer neuen Heimat stattete die bewundernswert stilsicher agierende Frau mit allerlei Möbeln (zumal aus Vogelers an kunstvollen Verzierungsdetails reichen Jugendstilfertigung) und weiterem Barkenhoff-Inventar aus, das von Spielzeug über Besteck und Porzellan bis hin zu Fotografien reichte. Die vom Barkenhoff mitgenommenen Gemälde aus Vogelers Frühwerk bildeten den Grundstock der aktuellen Museumssammlung. Hinzu kamen, einer Privatpassion Marthas geschuldet, regionale Trouvaillen, darunter Steinäxte und Fossilien von Äckern in der Umgebung. Besonders wichtig war ihr freilich die angemessene Zurschaustellung der Werke ihres Mannes.
So wichtig das Repräsentative, so unerlässlich die Arbeit zur Finanzierung des Anwesens: Ein Wirtschaftsgebäude, das neben dem Wohnhaus entstand, beherbergte die erste Webwerkstatt der Kreativ-Kommune, zu der seit Anbeginn auch die Künstlerin Lisel Oppel zählte. Gästezimmer wurden vermietet, und das Geschäft mit Kunst hob an. Vor allem aber arbeiteten der Kunstsinn und das große Geschick ihrer Töchter der Vielseitigkeit dieses Frauenbetriebs zu: Mascha widmete sich der Handweberei, einem traditionellen Kulturgut, das auch dieser Tage noch im Schluh praktiziert und vorgeführt wird. Bettina wiederum webte Bildteppiche, die mehrheitlich Entwürfen ihres Mannes nachgebildet waren. Mieke schließlich, die Kunst studiert und eine Ausbildung zur Silberschmiedin abgeschlossen hatte, konnte ihre Talente ebenfalls vollumfänglich einbringen. Weil Heinrich Vogeler seinen Töchtern zur Existenzsicherung die Druckplatten seiner Radierungen überantwortet hatte, florierte schon bald der Handel mit seiner begehrten Kunst.
Bereits 1921, im Jahr nach dem Umzug, war das Haus im Schluh als kultureller Treffpunkt etabliert. Das lag an Marthas geschätzter Gastfreundschaft und an der Bel(i)ebtheit des Anwesens, das dem Barkenhoff rasch den Rang als Künstlerforum ablief. Tetjus Tügel, Richard Oelze und andere kamen und blieben gern. Zudem avancierte die Miniaturkünstlerkolonie zu einem beliebten Ausbildungsplatz für junge Frauen aus der Region, die sich im Schluh in den Disziplinen Weben und Hauswirtschaft schulen lassen konnten. Martha war es trotz schwieriger Vorgeschichte zufrieden: „Die Kinder und ich wohnen nicht mehr auf dem Barkenhoff, die Diktatur des dortigen Proletariats war uns zu stark, wir mussten weichen“, schrieb sie 1921 in einem Brief. „Aber wir fühlen uns sehr wohl so in unserem schönen Bauernhaus.“
Jene Frau, die diesen bis heute magischen Ort im Innersten zusammen hielt, steht im Mittelpunkt der Jubiläumsausstellung des Hauses im Schluh: Unter dem Leitwort „Martha Vogeler. Leben mit der Kunst“ soll vom 21. Juni bis zum 1. November 2020 nachvollziehbar werden, wie Heinrich Vogelers erste Ehefrau von einer zigfach abgebildeten Inspirationsquelle zur umsichtigen Geschäftsfrau, bedächtigen Sammlerin und bedeutsamen Akteurin des Worpsweder Kulturbetriebs wurde.