
Woran man merkt, dass schon wieder ein Jahr vergangen ist? Daran, dass die Weserburg sich mit einem neuen Teil ihrer seriellen Sammlungspräsentation zurückmeldet. Zum dritten Mal haben Museumsdirektorin Janneke de Vries und ihr Team umgeräumt, Werke ausgetauscht, neu gemischt und Arbeiten aus ganz unterschiedlichen Zeiten und Kontexten in bisher unentdeckte Zusammenhänge gesetzt. Das Ergebnis ist „So wie wir sind 3.0“ mit mehr als 190 Werken aus privaten Sammlungen, aus den eigenen Beständen und aus Leihgaben, verteilt auf 2500 Quadratmetern Museumsfläche. Kuratiert wurde die Präsentation von de Vries und Ingo Clauß.
Ein Themenareal der Ausstellung widmet sich der Minimal Art, weitere unter anderem den Themen Alltag, Menschenbilder, fotografischen Verfahren oder dem ästhetischen Widerspruch. Die wohl minimalistischte Arbeit in der Ausstellung ist quasi nicht einmal eine Arbeit. Denn „Wandstück“ (2021) von Karin Sanders ist im Grunde nur das, was der Titel bereits benennt: ein Stück Wand. Die Künstlerin hat jedoch einen quadratischen Ausschnitt einer weiß gestrichenen Wand gründlich abgeschliffen und poliert, sodass er nun spiegelt und auf den ersten Blick wirkt, wie ein angebrachtes Objekt.
Wie sehr Corona bereits die Lesart bestimmter Werke verändert hat, verdeutlicht unter anderem die Skulptur „Die Reihe“ (2006) von Iris Kettner aus dem Themenbereich der Menschenbilder. In der Arbeit stehen aus Stoffresten und Kleidungsstücken geformte, gesichtslose Menschen Schlange. Wofür sie anstehen? Das weiß man nicht. Vielleicht sind es Wohnungslose bei der Essensausgabe, vielleicht Menschen am Fahrkartenautomat in einer viel zu engen U-Bahn-Station oder sie stehen nur symbolisch dafür, dass sich das Warten hier nicht lohnt - am Ende der Schlange befindet sich schließlich nichts als Mauer. Vielmehr drängt sich dem Betrachter aber sowieso eine andere Frage auf: Warum bitte halten die keinen Abstand?
Betritt man den Bereich, der unter dem Thema Deutschlandbilder (Nationalismus, Nachkriegszeit, Migration, Wiedervereinigung und viele weitere Aspekte finden hier ihren Platz) läuft, kommt man um die Arbeit „Reise ins Glück“ (1992) von Felix Droeses nicht herum: Ein riesiger Scherenschnitt, der einen mit Menschen besetzten Bus zeigt. Vielleicht sind sie tatsächlich gerade auf ihrer (vermeintlichen) Reise ins Glück. Doch auch die Reifen des Busses sind als menschliche Köpfe dargestellt. Die Reise der anderen geht auf ihre Kosten.
Annette Kelm zeigt in ihrer Serie „Die Bücher“ Fotografien der Cover von Erstausgaben, die von den Nazis 1933 verbrannt oder verboten wurden, und auch Oswald Oberhuber bezieht sich in seiner zynischen, titellosen Arbeit aus dem Jahr 1969 auf die Nazizeit, indem er dem Betrachter ein „Führergefühl“ verspricht, wenn er auf den von ihm gebauten Sockel steigt. Die Künstlerin Rima Radhakrishnan nähert sich in ihrer Arbeit aus dem Jahr 2021 dem deutschen Bürokratisierungswahn, indem sie assoziative Wortreihungen aus einem der längsten Hauptwörter der deutschen Sprache bildet. So viel sei verraten: Es besteht aus 63 Buchstaben.
Ein Höhepunkt der Ausstellung ist der Künstlerraum der amerikanischen Künstlerin Mel Chin und dem Studierenden-Kollektiv Gala Committee. Zwischen 1995 und 1997 haben Künstlerin und Kollektiv das Projekt „In the Name of the Place“ umgesetzt. Die Idee: Werke mit gesellschaftskritischem Inhalt in die 4. und 5. Staffel „Melrose Place“ einschleusen. Insgesamt 150 Arbeiten fanden als Requisiten Eingang in die beliebte amerikanische Seifenoper aus den 90ern. Nach Abschluss der Staffeln wurden sie bei Sotheby's versteigert. Und nun sind einige der Arbeiten in der Weserburg gelandet, darunter auch die „Shooter's Bar“, ein wichtiger Spielort der Serie. Sie wurde einer irischen Hotelbar nachempfunden, die einst einem Bombenattentat zum Opfer fiel.
Auch zu sehen ist ein Set Billardkugeln, dessen schwarze Acht in rechten Kreisen oft als Hitlersymbol genutzt wird. In der Arbeit von Mel Chin jedoch findet man nicht den üblichen weißen Kreis um die Zahl auf der Kugel, sondern die Umrisse des afrikanischen Kontinents. Neben Mel Chin zeigt die Weserburg zudem Künstlerräume mit dem Fokus auf Norbert Schwontkowski, Joyce Pensato und Kapwani Kiwanga. „So wie wir sind 3.0“ wird bis zum 23. Januar 2022 zu sehen sein.
„So wie wir sind 3.0“ in der Weserburg, dienstags bis sonntags von 11 bis 18 Uhr. Für den Besuch muss vorab ein Zeitfenster über www.nordwest-ticket.de gebucht werden. Sollte es zu einer erneuten Schließung der Museen kommen, wird das Geld für die Tickets erstattet.