
Eine horrende Revue ist am Deutschen Schauspielhaus Hamburg zu besichtigen. Heimliche Regie führt gewissermaßen der, von dem Udo Jürgens einst sang, er habe den Schnaps gemacht. Alkoholexzesse sind allgegenwärtig im gleichermaßen drastisch wie plastisch vorgeführten Altona-Milieu, dem Stéphane Laimé eine großartige Bühne bereitet hat – einschließlich einer bemerkenswerten Bar in Gestalt eines überdimensionierten Aschenbechers mit integrierten Pissoirs.
Ständig bis zum Anschlag voll sind so ziemlich alle Figuren in dieser realitätsnah vorgeführten Hamburger Vorhölle, die auch in einer der dem Schauspielhaus benachbarten Kneipen von St. Georg angesiedelt sein könnte. Sie lallen und lästern, torkeln und sondern grenzwertige Zoten ab, führen abwechselnd große und kleinlaute Reden über Liebe, Sex, zerstobene Träume und vor allem die nächste Lokalrunde.
Der Teufel namens Alkohol selbst tritt zwar nicht auf, führt aber unverkennbar die Fäden. Dafür streift ab und zu der Schauspieler Jens Rachut im haarigen Kostüm eines rüden Katers durch das Szenario, um daran zu gemahnen, was für die angestrengt fröhlichen Säufer unweigerlich auf den Vollrausch folgt. Dass diese geschlossene Zechergesellschaft, die sich aus prekären Desperados rekrutiert, eine historische Konstante darstellen soll, zeigt das Bombendröhnen zu Beginn der knapp zweistündigen Inszenierung ebenso wie das larmoyante Adamo-Lied „Es geht eine Träne auf Reisen“.
Eindringlicher Premierenabend
Die Schrecken dieses morbiden Milieus hat der schreibende Szenekenner und -gänger Heinz Strunk („Fleisch ist mein Gemüse“) in dem für seine Verhältnisse ungewohnt ernsthaften Roman „Der Goldene Handschuh“ geschildert, der im März vergangenen Jahres bei Rowohlt erschienen ist. Die Bearbeitung des Textes für die Bühne hat er – samt Inszenierung – mit Studio Braun besorgt, einem Künstlerkollektiv, zu dem außer ihm Rocko Schamoni und Jacques Palminger gehören – und das der Welt unter anderem launige Telefonstreiche und die Mockumentary „Fraktus“ beschert hat.
Der neue Stoff jedoch, aus dem Albträume und Beklemmungen sind, ist härter, bizarrer und trauriger als jeder vorige. Auch deshalb, weil er nur bedingt die üblichen Studio-Braun-Zutaten Nonsens und Nostalgie zulässt. Daran ändert auch die Beteiligung des sonst so pointenfixierten Trios am Bühnengeschehen nichts: Strunk gibt den herben Ur-Wirt Herbert, einen vormaligen Faustkämpfer, Schamoni mit Minipli den brutalen Stammkunden Soldaten-Norbert, Palminger einen Kellner mit dem denkwürdigen Necknamen Anus.
Zusammengehalten wird der teils verstörende Szenenreigen, in dem rhetorische und sexualisierte Gewalt wiederholt eskalieren, durch ein historisch verbürgtes Scheusal, das im „Goldenen Handschuh“ ein und aus ging: Serienmörder Fritz „Fiete“ Honka (1935-1998), der in seiner abgerockten Wohnung vier Frauen tötete. Ihn legt der vorzügliche Charly Hübner als wandelnde Zeitbombe an – mit jäh wechselnder Stimmung, fortgeschrittener Alkoholabhängigkeit (samt Harald-Juhnke-Gedächtnis-Wanken) und pathologischer Herrschsucht gegenüber Frauen. Wie er sie, die er jovial in der Kneipe aufgabelt, in seine Trinkerbude lockt, in der außer Flaschen Pin-up-Poster zum Inventar zählen, um sie dort zu erniedrigen, zählt zu den zugleich schrecklichsten und besten Schauspielmomenten des eindringlichen Premierenabends.
Musikalische Kabinettstückchen
Überhaupt läuft das Ensemble in dieser Horrorshow zu großartiger Form auf: Bettina Stucky, die Honkas erstes Opfer Gerda Voss verkörpert, stiert und lallt sich durch ihren Part, dass es eine grausame Wonne ist. Josef Ostendorf, der Honkas Arbeitgeber spielt, ist ein sehr viel Fleisch gewordener Herrenwitz; das zugehörige Gelächter bleibt den Zuschauern zusehends im Halse stecken. Rosemary Hardy gibt der Heilsarmistin Gisela Statur, die naturgemäß nichts retten kann, wo nichts mehr zu retten ist. Lina Beckmann schließlich spielt gewohnt grandios ein weiteres Alkoholopfer in dieser ausweglosen Internierungssituation.
Dass die Aufführung trotz toller Darsteller, musikalischer Kabinettstückchen (Studio Braun, Lieven Brunckhorst, Sebastian Hoffman) und angemessen abgeranzter Kostüme (Dorle Bahlburg) nicht vollends überzeugen kann, liegt paradoxerweise an einer ihrer großen Stärken: dem revueartigen Aufbau. Der wird zuverlässig dann zum schwächenden Element, wenn es darum geht, den Erzählstrang um die Fährnisse des Frauenmörders Fritz Honka wieder stimmig aufzunehmen. Da aber hakt es wiederholt; dramaturgische Hänger und eine gewisse Ermattung des Publikums sind die Folge. Es ist dies zwar insofern eine lässliche Sünde, als auch Heinz Strunks literarische Vorlage nicht aus einem Guss ist. Man ahnt: Auch bei Adaptionen kann Ämterhäufung blinde Flecken zeitigen. Ungeachtet dessen fällt der Applaus sehr wohlwollend aus, zumal für den überragenden Charly Hübner.