
Beim Deichbrand-Festival riecht es nach Bier, Bratwurst und Gülle, womöglich auch nach menschlichen Fäkalien. Jedenfalls im sogenannten Camp North, in dem Besucher mit der Lizenz zum Übernachten (und zum Grillen) dicht an dicht ihre Zelte aufgeschlagen haben.
Am Sonnabendmittag ist es nach vormittäglichen Schauern wieder leidlich trocken auf den stoppligen Feldern, die zum Parken, Campieren und Feiern dienen. Für einige Stunden lässt sich sogar die Sonne im Landkreis Cuxhaven blicken. Sozusagen als VIP-Überraschungsgast. Entgegen allen Prognosen.
Und zur Freude jener Fans, die am Nachmittag bereits ausgeschlafen genug von den Exzessen der Vornacht sind, um das ausladende Areal erneut in eine probate Partyzone umzuwidmen. Beim Auftritt von Patrice wiederum riecht es nach Gras. Gleich zu Beginn des viertägigen Festivals hatte die Polizei reichlich Marihuana sichergestellt.
Doch etwas muss ihr durchgerutscht sein. Dieses Etwas passt gut zum Publikum eines ideellen Nachfahren von Bob Marley. Für die vergleichsweise frühe Tageszeit gehen die Fans bereits ordentlich mit: Traumverloren tanzen junge Frauen, darunter auffällig viele mit Plastikblumen im Haar, vor der sogenannten Water Stage zu „Island“, einem Song des deutschen Reggae-Sängers.
„The only good system is a sound system“, heißt es darin programmatisch. Ungeachtet vereinzelter Hippie-Reminiszenzen: Das Deichbrand-Festival ist im 13. Jahr seines Bestehens längst eine logistisch ausgeklügelte Großveranstaltung, die um die 50.000 Besucher lockt – und ideologisch ungefähr so weit von Woodstock entfernt wie faktisch von einem echten Deich.
Dafür tun die Einheimischen viel, um es den Sommergästen so schön wie möglich zu machen. „Frühstück: 5 Euro“ und „Bier, Schnaps, Duschen“ prangt auf Schildern entlang der Hauptstraße, die durch das 600-Seelen-Dorf Wanhöden zu den Festivalparkplätzen führt.
Stars wie Kraftklub und Marteria
Wer sich geringschätzig zu der Bemerkung versteigt, der Ortsname reime sich auf Anöden, muss wohl die anderen 361 Tage im Jahr meinen. Über der als Open-Air-Arena ausgewiesenen Fläche kreisen Möwen; am zusehends strapazierten Boden ist hingegen robustes Schuhwerk gefragt.
Auch abseits der Bühnen, auf denen zu späterer Stunde Stars wie Kraftklub und Marteria erwartet werden, gibt es launige Arten des Zeitvertreibs. Besonders beliebt ist das Saufspiel Flunkyball; mit Abstand auf den Plätzen folgen Beachvolleyball sowie neckische Gewinnspielchen von Kondom-, Alkohol- und Zigarettenherstellern. Man ist ja nur einmal jung.
Wer feste Nahrung zu sich nehmen möchte, geht zwar mit fortschreitendem Wochenende ein Verarmungsrisiko ein, das aber immerhin stilvoll: bei ökologisch wertvollen Pommes für vier, Kässpätzle für sechs und – getrüffelten! – Gnocchi für sieben Euro. Nicht nur gastronomisch ist das Festival, das mehrheitlich von Menschen aus der Region frequentiert wird, ein kunterbunter Markt der Möglichkeiten. Dieser Umstand macht es trotz seiner Ausmaße sympathisch.
Familiär im besten Sinne
Ungleich kleiner (und darob noch ein bisschen sympathischer) ist das gut 80 Kilometer entfernt von Wanhöden anberaumte Festival Watt en Schlick, das seit 2014 in Dangast stattfindet. Aus der Taufe gehoben hat es Till Krägeloh, ein Bremer, der nichts dagegen hätte, den Veranstaltungsreigen in den kommenden Jahren zu einem Montreux des Nordens zu veredeln, wie er unlängst dem Musikmagazin Rolling Stone anvertraute – mit Blick auf ein erlesenes (Jazz-)Festival am Lac Léman.
Mögen diese flausenhaften Ambitionen grandios scheitern! Denn es sind auch, ja gerade die – geringfügigen – Mängel an Professionalität sowie das unbedingte Bekenntnis zur Rustikalität der Provinz (samt Rhabarberkuchen!), die das multiple Musikereignis am Jadebusen so liebenswert machen. Familiär im besten Sinne ist dieses Festival, bei dem Väter und Mütter ihre Sprösslinge vor der Hauptbühne auf die Schultern nehmen.
Eigens für Kinder ausgegebene Kopfhörer machen das Lärmaufkommen erträglich. Wer noch zu klein ist für den Humor von Wigald Boning oder die avantgardistischen Klänge von Jacques Palminger & 440hz Trio, der buddelt im Sand. Ist ja irgendwie auch Kultur.
Eine erkleckliche Anzahl pittoresker Burgen ziert am Sonntagmittag den Strand – und lässt ebenso wie der eine oder andere beherzte Flutschwimmer vergessen, dass das Festival in der Nacht zuvor wegen einer Unwetterwarnung für eine Stunde unterbrochen werden musste. Doch die Verschnaufpause in der Wetterküche währt nur kurz.
Gegen 13 Uhr türmen sich erneut die Wolken; wenig später geht, umflort von Blitz und Donner, ein heftiger Platzregen nieder. Unterschlupf (und Kost) bietet das um 1800 gebaute Kurhaus, in dem sich während des Unwetters die Gäste drängen wie sonst allenfalls beim seligen Sommerschlussverkauf. Gleichwohl bleibt die Atmosphäre entspannt, ja meditativ. Man ist ja – anders als so manche angebotene Backware – nicht aus Zucker.
Das gilt auch für jene Athleten, die am Nachmittag bei Ebbe an den vierten deutschen Meisterschaften im Schlickrutschen teilnehmen wollen. Ihre spaßige Sportart zeigt beispielhaft, wie es in Dangast weiterhin gelingen kann, lokale Üblichkeiten und überregionale Gäste zu versöhnen.