
Sie hieß Jessica, war rehäugig, kam aus Frielingen (bei Garbsen bei Wunstorf) – und studierte Ende der 80er-Jahre an der Universität Hannover Geisteswissenschaften. Weil sie zudem meine Nachbarin war, damals hinterm Mond in den schmucklosen Plattenbauten einer Wohnungsbaugesellschaft in Hannovers Oststadt, bekam ich mit, dass sie mit Gero Drnek liiert war, seit 1989 Keyboarder der ortsansässigen Rockgruppe Fury in the Slaughterhouse, die sich 1986 gegründet hatte.
Für Hannover, die spröde Stadt an der Leine, deren musikalische Lokalheroen bis dahin nur aus den Scorpions bestanden, war das natürlich ein Riesending. Nicht so sehr die Geschichte mit Jessica und Gero. Vielmehr das prestigeträchtige Geschenk einer jungen druckvollen Band, die alle nur Fury nannten, weil es im bodenständigen Hannover seit jeher als subversiv gilt, in fremden Zungen zu reden. Wann immer die Musiker am bescheidenen Beginn ihrer bis 2008 währenden Laufbahn zu Open-Air-Konzerten auf abgeernteten Kornfeldern in und um Hannover antraten, vergaßen Lokalpatrioten gern, dass die Köpfe der Band, Kai und Thorsten Wingenfelder, aus Hamburg stammten. Von der Gründungsformation ist nur Rainer Schumann gebürtiger Hannoveraner. Auf ihn durfte man stolz sein. Wie einige Jahre später auch auf den Neuzugang Gero Drnek, den Spaßvogel der Band. (Warum – vergleiche Thomas D. von Fanta Vier – sind es eigentlich immer die Bandmitglieder mit frühzeitig flüchtigen Haaren, die diesen Part übernehmen?)
Band tritt mit Cajon und Violine an
In der Glocke, Bremer Station der aparten Akustik-Tour anlässlich des 30jährigen Bandjubiläums, sitzt Gero Drnek ganz vorne rechts an den Keyboards. Nicht zu verwechseln mit den lustigen, luftigen Ballons, die das Bühnenbild dominieren. Um sich hat der gewohnt heiter anmutende Glatzkopf mit dem grauen Walter-Ulbricht-Gedächtnisbärtchen etliche weitere Instrumente geschart, die im Laufe des langen Abends noch eine gebührende Rolle spielen werden. Ab und zu lächelt Gero leutselig, bisweilen auch verschmitzt. Den Part als mimisch und rhetorisch kesser Spaßvogel muss er sich mittlerweile mit dem Gitarristen Christof Stein-Schneider teilen (seit 1996 in der Band), der auf der linken Bühnenseite spielt – stehend. Seine orangefarbene Kledage ist ein ähnlich schriller Hingucker wie seine Rocko-Schamoni-Lookalike-Frisur. An seinem Mikrofonständer ist in Oberschenkelhöhe ein Bierflaschenständer justiert. Das Ausstattungsdetail legt nahe, dass alternde Rockstars entweder chronisch Rücken haben oder bequem geworden sind. Dafür spielt der Mann auch formidabel Trompete.
In der Bühnenmitte nehmen naturgemäß die Gebrüder Wingenfelder Platz. Kai, die deutsche Antwort auf Michael Stipe (R.E.M.), hat sich trotz seiner 58 Lenze und einigen Alkohol-Anekdoten zuviel eine zum Schmelzen ladende Stimme mit innigen Crisp-Effekten bewahrt. In überwiegend neuen Arrangements bieten Fury (wie der Hannoveraner sagt) über zweieinhalb Stunden zwei Dutzend Songs, mithin einen nostalgisch grundierten Trip in drei Jahrzehnte englischsprachigen Rock made in Germany. Auf die Ohren gibt es jüngere Stücke wie das sardonische Barfly-Lied „Last Order“ ebenso wie die großen Hits der Bands, darunter eine feine Version von Kais Lieblingssong, „Every Generation Got It's Own Disease“. Dunkel dräuender Kontrabass inbegriffen.
Überhaupt hat die Band keine Unplugged-Umbauten gescheut – und tritt mit Cajon und Violine an. Nicht zu vergessen Geros musischer Fuhrpark, der unter anderem Mandoline, Klarinette und eine sogenannte Monstermundharmonika beinhaltet. Viel Beifall für eine sentimentalische Reise der intensiven Art. Apropos: Ob Gero und Jessica noch Kontakt haben?