
Comics sind nur etwas für Kinder? Leichte Unterhaltung, aber bestimmt keine Kunst? Von wegen! Diese Vorurteile waren spätestens seit dem Moment vom Tisch, als sich irgendein kluger Kopf den Begriff Graphic Novel ausgedacht hat. Klingt viel cooler als Comic. Irgendwie düsterer, und auch nach mehr Arbeit und Konzept.
Um aufzuzeigen, wie viel künstlerischer Wert in den modernen sequenziellen Bilderzählungen liegt, und dass Comics heute viel mehr sind als Geschichten über Superhelden oder fröhliche Walt Disney-Figuren, steht das Wilhelm-Wagenfeld-Haus aktuell ganz im Zeichen der „Graphic Novel“. Das einzige Problem: „Wir haben eine wunderbare Ausstellung zusammengestellt, und nun können wir sie nicht zeigen“, sagt Julia Bulk, Leiterin des Wilhelm-Wagenfeld-Hauses. Eigentlich sollte die Schau bereits am 30. Oktober eröffnet werden, aufgrund der Corona-Schließungen musste die Eröffnung aber erst in den Dezember, dann in den Januar verschoben werden. Und nun? Wieder nichts. Darum hat das Museum sich entschieden, den digitalen Weg zu gehen und seinen Besuchern die Ausstellung mithilfe des Kommunikationsverbands Wirtschaftsraum Bremen vorerst als virtuellen 360-Grad-Rundgang zur Verfügung zu stellen.
Mal eine andere Perspektive auf Kunst also. Und gleich im Eingangsbereich lernt der Besucher zwei Künstler kennen, die in ihren Arbeiten mit dem Thema Perspektive spielen. In Julia Bernhards Rollenbilder hinterfragendem und sehr ironischem Buch „Wie gut, dass wir darüber geredet haben“ sieht der Betrachter die Welt durch die Augen einer jungen Frau.
In Martin Panchauds Graphic Novel „Die Farbe der Dinge“ wiederum sind Menschen nur bunte Punkte, die wir von oben sehen. Das Buch erzählt die Geschichte des 14-jährigen Simon, der seinem Vater Geld klaut und damit bei einem Pferderennen Millionen gewinnt. Sein Diebstahl hat allerdings auch tragische Konsequenzen.
Ein anderer Bereich der Ausstellung widmet sich Künstlerinnen aus dem Spring-Kollektiv, einer rein aus Frauen bestehenden Gruppe, die jährlich ein Magazin herausbringt und in ihrem Schaffen Grenzen zwischen der Graphic Novel und anderen Bereichen wie der Illustration oder der freien Zeichnung wegwischt. Sechs Positionen von Künstlerinnen, die am aktuellen Magazin zum Thema Gespenster mitgewirkt haben, sind in der Ausstellung zu sehen. Darunter unter anderem „Vater Gespenst“ von Nina Pagalies, in der die Künstlerin das schwierige Verhältnis zu ihrem verstorbenen Vater thematisiert, oder die Arbeit „Hirngespenst“ von Larissa Bertonasco, in der es um die absurden Gedanken geht, die einem so kommen, wenn man mit einem Projekt bestimmte Fristen einhalten muss. In fast allen Räumen zeigt die Ausstellung nicht nur fertige Werke, sondern verdeutlicht auch ihren Entstehungsprozess anhand von Skizzen und Vorzeichnungen, die mal analog und mal am Computer entstanden sind.
Es ist eine Schau, die – vor Ort, aber auch virtuell – Spaß macht, jedoch durchaus auch ernste Themen in den Mittelpunkt rückt, mal Gesellschaftskritik äußert, mal unterhält, mal historisches Weltgeschehen visualisiert, mal Erinnerungen dokumentiert und damit einmal mehr zeigt, wie facettenreich Comic-Kunst heutzutage sein kann.
Im oberen Bereich (den man übrigens auch digital sowohl über die Treppe als auch per Fahrstuhl erreichen kann) wird zum Beispiel die Graphic Novel „Valentin“ von Jens Genehr vorgestellt, in der es um die Entstehung des gleichnamigen U-Boot-Bunkers in Farge geht. Zwischen 1943 und 1945 sind hier mehr als 1000 Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge ums Leben gekommen. Joe Sacco erzählt in einem beeindruckenden und zugleich erschreckenden Panorama von mehreren Metern Länge von der Schlacht an der Somme während des Ersten Weltkriegs.
Parallel zur Ausstellung läuft der Wettbewerb „Battle of Print“, den der Kommunikationsverband Wirtschaftsraum Bremen seit 2007 veranstaltet. Dieses Mal stand auch er unter dem Motto „Graphic Novel“. Eine Auswahl der besten Beiträge ist im Wilhelm-Wagenfeld-Haus zu sehen. Zwölf von ihnen werden in einem „Battle of Print“-Kalender erscheinen, der gerade gedruckt wird. Der Gesamtsieger des Wettbewerbs, der sich über 250 Euro Preisgeld und einen Gutschein der Steintorpresse freuen kann, soll nächste Woche bekannt gegeben werden.
Die Corona-Krise hat laut Bulk verstärkt, was sich auch vorher schon in vielen Museen gezeigt hatte: „Digitale Angebote werden an Bedeutung gewinnen.“ Doch auch wer es lieber analog mag, darf sich freuen: „Wir werden den Lockdown abwarten und die ursprüngliche Laufzeit von vier Monaten anhängen“, sagt Kathrin Hager vom Wilhelm-Wagenfeld-Haus. Dann werde sich laut Bulk auch zeigen, wie und ob sich das virtuelle Angebot auf die analogen Besucherzahlen auswirke. „Es ist für uns ein spannendes Versuchsprojekt.“
Einen Link zum virtuellen Rundgang durch die „Graphic Novel“-Ausstellung gibt es unter www.wilhelm-wagenfeld-stiftung.de.