
April 2014, Dr. Dres Telefon klingt, Jimmy Iovine ist dran, es gibt Gerüchte, dass Apple Beats kaufen will, ihre gemeinsame Firma. Iovine ist nervös, der geheime Deal mit dem Technikriesen wackelt. Ruhig bleiben, Klappe halten, fordert er von Dre. „Erinnerst du dich an Robert De Niro in ‚Goodfellas‘? Diese Szene, als er seinen Mafia-Jungs erklärt: Kauft keine Pelze. Kauft keine Autos. Protzt nicht rum.“
Ein paar Stunden später. Es ist zwei Uhr nachts, Anruf für Iovine. P. Diddy brüllt ins Telefon. „Mann, warum hast du mir nicht erzählt, dass Apple Beats kauft?“ Der geheime Deal ist eines nicht mehr: geheim. Der Grund: ein Video auf der Facebook-Seite von Dr. Dre, eine rauschende Studio-Siegesfeier mit den Kumpels. Einer ruft: „Sie müssen die verdammte Forbes-Liste ändern. Der erste Hip-Hop-Milliardär kommt von der Westküste.“
Das irrwitzigste Pop-PaarDie Netflix-Doku „The Defiant Ones“ (Die Aufsässigen) beginnt mit der Anekdote, wie der größte Deal der Hip-Hop-Historie beinahe an einem Facebook-Video gescheitert wäre. Er ist es nicht, und deswegen kreist die vierteilige Serie zunächst um die Kopfhörer- und Lautsprecher-Firma Beats Electronics, dem wohl größenwahnsinnigsten Projekt dieser zwei grandios-größenwahnsinnigen Geschäftsmänner, Produzenten und Pop-Pioniere.
Denn natürlich ist die Kopfhörer-Firma keine gewöhnliche Kopfhörer-Firma, natürlich sind ihre Kopfhörer, sind diese Prollmuscheln prägende Popkultur. Verbindliche Musikvideo-Requisite und A-Liga-Accessoire, urbane Statussymbole, ohne die sich kein Fußballer aus dem Mannschaftsbus traut. Und seit 2014 sind sie auch Apples teuerster Firmenkauf. Über drei Milliarden Dollar zahlte der Konzern. Es ist die irrwitzige Pointe der Geschichte des irrwitzigsten Pop-Paares überhaupt.
Absurde AnekdotenZum einen: Jimmy Iovine, der Rock-Restaurateur, ein Ostküsten-Italo, klein und schmächtig, Augenringe wie ein Panda, Augenbrauen wie ein Tropenwald. Ein Trickser, wie von Martin Scorsese ausgedacht, gewieft und besessen. Zum anderen: André Romelle Young, genannt Dr. Dre, das Gangstarap-Genie, Hood-Held von der Westküste, der die fiesen Typen zum Tanzen brachte, ein Wandschrank von einem Mann.
An diesen beiden Figuren erzählt die Doku die vergangenen 40 Jahre Pop-Geschichte. Ein rasanter Ritt mit Interviews, so gegeneinander geschnitten, als seien die Wortbeiträge der Wegbegleiter Platten, die es in Dres DJ-Duktus zu scratchen gelte. Es plaudert dann wirklich das gesamte Pop-Personal. Man bekommt den Eindruck: Wer sich in den vergangenen Jahrzehnten in der Musikindustrie rumtrieb und nichts mit Dre oder Iovine zutun hatte, muss zwangsläufig unbedeutend sein, ein Niemand.
Zwei amerikanische Aufsteiger-MärchenIovine begann als Toningenieur für John Lennon, arbeitete dann mit Bruce Springsteen. Er produzierte Patti Smith, Tom Petty, U2, förderte Nine Inch Nails, Marilyn Manson, Gwen Stefani, Lady Gaga. Sein Label Interscope Records wurde zum Innovationsepizentrum. Dr. Dre gründete N.W.A., prangerte Polizeigewalt an, erfand den modernen Gangstarap, entdeckte und produzierte Snoop Dogg, Eminem, Kendrick Lamar. Beinahe alle von ihnen kommen zu Wort und erzählen teils absurde Anekdoten, die man so wirklich noch nicht gehört hat.
Immer wieder kreuzten sich die Wege von Iovine und Dre. So unterschiedlich ihre Geschichten auch sind: Letztlich erzählen natürlich beide das klassische amerikanische Aufsteiger-Märchen. Von der Gosse in die Vorstandsetage. Vom Tellerdreher in den Clubs der Problembezirke zum Milliardär in den verspiegelten Hochhaustürmen. Selten wurde diese eigentlich auserzählte Geschichte so gewaltig inszeniert wie in „The Defiant Ones“.