
Bremen. Sinniger kann man eine Feierstunde im Zeichen des Textes kaum einleiten: „Du musst das Leben nicht verstehen / Dann wird es ein Fest“, lautet der Refrain eines von der polnischen Sängerin Natalia Mateo angestimmten Liedes, das Dany Ahmad mit bemerkenswerten Gitarrenklängen unterlegt. Diese virtuose Einstimmung auf die kommende Ausgabe der Bremer jazzahead! (6. bis 22. April) erteilt der Hermeneutik, einer literaturwissenschaftlichen Schlüsseldisziplin, insofern eine Absage, als das schiere Dasein von der Lehre des Verstehens explizit auszunehmen sei, wenn es denn schön, wahr und gut geraten soll. Umso mehr dürfen sich verstehenswütige Exegeten in der Kunst austoben, dürfen verstiegene Argumentationstürmchen bauen, dürfen Zeichen auflesen, vergleichen, sortieren – und trophäengleich in triumphale Höhen recken. Einmal im Jahr liefert das Bremer Rathaus die stimmungsvolle Bühne für derart verständnisinnige Lesarten. Interpretationen, denen freilich die Möglichkeit produktiver Missverständnisse eingeschrieben ist.
Apropos: Wie lautet eigentlich der Plural von Lapsus? Rhetorische Saumseligkeiten jedenfalls sind es, die am Montagmittag den gewohnt textdrallen Festakt zur Verleihung des Bremer Literaturpreises dynamisieren – und für Heiterkeit in der bestens frequentierten Oberen Rathaushalle sorgen. Darunter ist die vom Auftaktredner, Bürgermeister und Kultursenator Carsten Sieling, prompt korrigierte Äußerung, an diesem Tag werde der Bremer Kulturpreis vergeben. Darunter ist die vom Vorsitzenden der Rudolf-Alexander-Schröder-Stiftung, Michael Sieber, prompt korrigierte Äußerung, der mit dem Bremer Literaturpreis bedachte Roman von Thomas Lehr heiße „Schlafende Hunde“. Und darunter ist die vom ausgezeichneten Autor prompt korrigierte Äußerung, er freue sich über die Verleihung des Berliner Literaturpreises. Bei so vielen Lapsus, auszusprechen übrigens mit einem langen u, fällt schon gar nicht mehr weiter auf, dass den früheren Preisträgern ein Mann zugeschlagen wird, der – aber wir schweifen ab.
Zu erleben ist eine kompakte Lektion in Sachen kunstvoller Lektüre. Zudem sind gleich mehrere wohltuende Bekenntnisse zu einem Preis zu vernehmen, der zwar über ein "errungenes Renommee" (Sieling) gebietet, aber wegen seiner beachtlichen Dotierung – 25.000 für den Hauptpreisträger, 6000 Euro für die Förderpreisträgerin Laura Freudenthaler – naturgemäß kein Selbstläufer sein kann. Umso unverzichtbarer ist in dieser Perspektive die Einbettung der Auszeichnung in die Literarische Woche, deren 42. Ausgabe sich mit "Herkunft & Identität" befasst. Passgenau, darauf weist Sieling hin, sei dieses Motto in Bezug auf die Prosa der beiden Preisträger gewählt. Auch im Blick auf Thomas Lehrs dem Zentralgestirn zugeeigneten Roman "Schlafende Sonne" (sic!), der Erinnerungen an Astronomie-Traditionen in Bremen und Lilienthal wecke: Heinrich Wilhelm Olbers, Friedrich Wilhelm Bessel und Johann Hieronymus Schroeter.
Funkelnde Lobrede
Auftritt Stefan Zweifel, Schweizer Literaturwissenschaftler und Jury-Novize. Seine feuilletonistisch fesche Laudatio auf Thomas Lehr arbeitet sich zunächst gleichfalls passfertig an jenen Metaphernfeldern ab, die bereits der Titel des belobigten Werks souffliert, das den Auftakt zu einer Trilogie bilden soll. Allenthalben flirrt und flimmert es in dieser mal funkelnden, mal sich verdunkelnden Lobrede, die Erinnerungen an Ingeborg Bachmanns Hymnus „An die Sonne“ flankieren („Nichts Schön'res unter der Sonne als unter der Sonne zu sein“). 1957 erhielt Bachmann, die 1973 ein Raub der Flammen wurde, den Bremer Literaturpreis. 2018 gibt sich Zweifel in seinen Ausführungen „geblendet, überwältigt vielleicht auch überfordert“ durch einen Roman, der in seinen Augen durch „verschmitzte Erotik“ glänze, durch das von den Hauptfiguren gebildete „lodernde Dreieck der Liebe“, durch „Lust am Text“ und „Lust am Sex“ – und, dies zuallererst, durch eine ästhetisch erhellende Umsetzung von Edmund Husserls Bewusstseinsstrom-Konzept in erzählende Literatur. Luzide – und lokalpatriotisch korrekt – gerät zweifelsohne auch der Hinweis des Laudators auf das sogenannte Olbers-Paradox, das, verkürzt gesprochen, der Frage nachgeht, warum der Nachthimmel eigentlich dunkel anmutet, da doch das als unendlich groß begriffene Universum so reich an kosmischen Lichtquellen ist.
Grenzerfahrung Lektüre
Zweifel würdigt Lehrs Roman abschließend als ein Buch, dessen Lektüre ihm zur „Grenzerfahrung“ geworden sei. Darum gehe er die Wette ein, dass die Trilogie nach ihrer Fertigstellung als „Jahrhundertroman“ gefeiert werde. Derlei freut den Autor naturgemäß. Folgerichtig dankt Thomas Lehr in seiner smarten wie dichten Entgegnung der Jury auch und gerade dafür, dass sie den ersten Teil eines Werkes ehre, „das aus drei möglichst unabhängig voneinander zu lesenden Romanen bestehen soll“. Sodann würdigt er am Raumfahrtstandort Bremen planvoll allegorisch das Textgenre, dem seine Arbeit gilt. Mithin eine Gattung, die heutzutage exotisch, ja extraterrestrisch wirken könne: Im Roman solle sich – im Idealfall – „eine Sprachwelt auftun, die sich von den üblichen gedruckten Sprachwelten der Zeitungen und Zeitschriften, der Sachbücher und Gebrauchstexte oder den von Videofilmen durchzuckten Internet-Wortflächen und Sprechblasen deutlich unterscheidet. Ein sprachlich und konzeptuell markanter Roman erscheint deshalb oft fremd wie ein Ding aus einer anderen Welt.“
Auf diese hermeneutische Gebrauchsanweisung, die Lehr auch und gerade in eigener Obskuritäten-Sache lanciert, folgen, ebenfalls in poetologischer Absicht, pointierte Passagen über das Abenteuer Lektüre, das dem Abenteuer Schreiben innig verwandt ist. Lehr modelliert es als „Zeitraummaschine“, die über Genregrenzen hinweg Kontexte, ja Verständnis zwischen (literarischen) Epochen stiftet. Als Beispiel für notwendige Transferleistungen wählt Lehr jenen Bremer Autor, in dessen Namen die Ehrung der Preisträger erfolgt: Rudolf Alexander Schröder, den er als „Gelehrten und Dichter des inneren Exils“ begreift. Würde er, Lehr, versuchen ihn zu verstehen, „so gelänge mir das noch am besten von seinem Bedürfnis her, sich zeitlebens im großartigen Zeitraumschiff der kanonisierten Weltliteratur (...) aufzuhalten und von dort her auf die Umstände seiner Zeit zu blicken.“
Bodenständiger ist Wiebke Porombkas Würdigung der Förderpreisträgerin Laura Freudenthaler, deren Roman „Die Königin schweigt“ Kommunikationsstörungen zwischen den Generationen beschreibt. Zum poetischen Kehraus gerät Freudenthalers Danksagung, die vom irdischen Glück geschälter Orangen handelt. Sozusagen ein vitales Fest ohne philologische Fußnoten.