
Schon kleine Kinder sind in Bremen verhaltensauffällig und übergewichtig. Das zeigen Ergebnisse der Schuleingangsuntersuchungen. Ob Bremens Sozialstruktur daran schuld ist, beantwortet Christian Palentien im Interview.
Herr Palentien, schon kleine Kinder sind verhaltensauffällig und übergewichtig, ein Viertel von ihnen spricht nur schlecht oder gar kein Deutsch – wer ist schuld?
Christian Palentien: Bei kleinen Kindern sind es vor allem die Eltern und die Erwachsenen, die die Aufgabe hätten, die Kinder zu erziehen, aber dieser Aufgabe nicht nachkommen oder nur unzureichend.
Ist Bremens Sozialstruktur mit schuld?
Erziehung heißt, dass man ein Bild von Kindern hat. Man versucht dann, Kinder zu diesem Bild zu bringen. Für Erziehung sind natürlich auch immer die Rahmenbedingungen verantwortlich, und Bremen hat natürlich einen großen Anteil von sozial benachteiligten Familien. Aber es sind eben nicht nur die Rahmenbedingungen, es sind auch die Personen, die handeln. Man kann vieles ausgleichen.
Wie denn?
Wir sehen das oft bei alleinerziehenden Eltern. Sie haben auf der einen Seite oft hohe Herausforderungen, was ihre eigene Situation, ihr Auskommen und ihre Wohnsituation angeht. Auf der anderen Seite sind sie vielfach sehr bemüht, für ihre Kinder das Beste zu erreichen. Die Rahmenbedingungen sind das eine, aber das, was ich für mein Kind will und wie ich es umsetze, ist das andere. Ich kann vieles ausgleichen, indem ich versuche, mit meinen Kindern spielerisch etwas zu erleben oder etwas zu unternehmen, was kein Geld kostet.
Was sind denn die wesentlichen Aufgaben von Eltern, die ihnen niemand abnehmen kann?
Das sind vor allem drei Bereiche, die Eltern ihren Kindern beibringen müssen. Erstens Sprache, Sprachvermittlung und Schreiben. Der zweite Bereich ist die emotionale Kompetenz, also Beziehung, Bindung, Achtung, Respekt. Der dritte Bereich ist der soziale Bereich, also dass Kinder lernen, wie sie sich mit anderen Kindern verhalten, dass Konflikte in einer bestimmten Art und Weise geklärt werden, nicht mit Gewalt. Eltern müssen Verantwortung dafür übernehmen, dass ihre Kinder in diesen Bereichen so ausgebildet werden, dass sie danach in der Schule keine Probleme kriegen. Erziehung ist auch Erziehungsarbeit.
Was bedeutet es für den Unterricht in der Grundschule, wenn viele Kinder so starke Defizite haben?
Lehrerinnen und Lehrer müssen die Aufgaben übernehmen, die die Eltern vor der Schule nicht übernommen haben. Das beginnt zum Beispiel bei der Sprachkompetenz, da muss die Schule grundlegende Kompetenzen vermitteln, die eigentlich schon die Familie hätte vermitteln sollen. Bei verhaltensauffälligen Kindern müssen Sozialkompetenzen in der Schule trainiert werden und bei übergewichtigen Kindern muss man Grundlegendes zum Thema Ernährung vermitteln. Das sind alles Bereiche, die eigentlich die Familien übernehmen müssten.
Können die Schulen das überhaupt leisten, das alles auszugleichen?
So sind ja die Ganztagsschulen entstanden. Man hat gesagt, für die Kinder ist es sinnvoller, dass sie ihre Freizeit nicht in der Familie verbringen, sondern in der Schule. Weil die Schulen das professionell ausgebildete Personal haben. Aber ja, viele Lehrerinnen und Lehrer sind überfordert mit diesen neuen Aufgaben, die über sie hereinbrechen.
Man traut den Eltern also auch gar nicht mehr zu, ihre Kinder zu erziehen.
Nein, nicht allen. Eltern müssen verstehen, wie Kinder lernen. Kinder lernen spielerisch und durch Übung, wie es in der Schule stattfindet, aber vor allem im Kindesalter auch viel über Vorbilder. Wenn die Eltern schlechte Vorbilder sind, dann übernehmen die Kinder das irgendwann. In solchen Situationen ist es wirklich besser, wenn die Kinder in der Schule sind. Dort haben sie andere Vorbilder, tauglichere Vorbilder.
Waren die Eltern früher bessere Vorbilder?
Das ist schwer zu vergleichen. Aber früher hatten die Eltern noch mehr Unterstützung durch ihre eigenen Eltern. Früher hatte man oft soziale verwandtschaftliche Netzwerke vor Ort. Und da konnte man sich Rat und Hilfe holen. Das fällt heute weg, weil die eigenen Eltern oft mehrere hundert Kilometer weit entfernt wohnen. Wenn man dann keine anderen Personen in seinem Umfeld hat, wird es schwierig.
Sehen Sie noch einen anderen Grund dafür, dass Eltern anscheinend immer schlechter in der Lage sind, ihre Kinder großzuziehen?
Die Eltern gehen davon aus: erziehen, das kann ja jeder. Aber so einfach ist es nicht. Manche verfügen selbst nicht über bestimmte Kompetenzen. Etwa wenn es darum geht: Wie lerne ich emotionale Nähe, wie lerne ich Achtung und Respekt, wie lerne ich Kooperation? Wenn Eltern das nicht können, müssten sie daran arbeiten. Das tun sie vielfach nicht.
Weil die Eltern das gar nicht so sehen?
Weil sie es nicht verstehen und weil sie ihre Defizite selbst gar nicht als Defizite wahrnehmen. Wenn sie wahrgenommen werden, dann vielfach erst in der Grundschule. Dort treffen die Kinder, von denen die Eltern der Meinung waren, sie sind ganz gut erzogen, auf andere Kinder. Und dann merkt man plötzlich: Oh, das ist doch nicht der Fall. Dann ist es aber schon zu spät.
Kann man da irgendetwas machen?
Es gibt heute viele Angebote für Erziehungskurse und Beratung. Wenn Eltern ihre eigenen Defizite und die ihrer Kinder wahrnehmen und Unterstützung wollen, bekommen sie die. Wichtig ist, dass man versucht, seine eigenen Verhaltensweisen zu reflektieren. All das, was ich mache, wirkt sich irgendwie auf meine Kinder aus.
Es gibt so viele Angebote, und trotzdem sind die Zahlen so schlecht. Wie kann das sein?
Bei vielen Familien gibt es eine Vererbung von Benachteiligung. Die Defizite der Eltern werden übertragen auf die Kinder, und so geht das immer weiter. Dieser Kreislauf lässt sich nur durch eigene Anstrengung oder durch Hinweise von außen durchbrechen. Diese Hinweise erfolgen oft zu spät oder wirken nicht. Und das führt dazu, dass diejenigen, die der Hilfe am dringendsten bedürfen, sie am wenigsten in Anspruch nehmen.
Die Fragen stellte Kathrin Aldenhoff.
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