
Wie kann man schon im Vorbeifahren wohlhabende Stadtteile von den nicht so privilegierten Quartieren unterscheiden? Antworten sind aus der Straßenbahn heraus leicht zu finden – erschreckend leicht.
Man erkennt es an der Größe der Häuser und den Marken der Autos davor, am Zustand der Fassaden und der Pracht der Vorgärten, daran, ob alles sauber und gepflegt anmutet oder eben nicht, an der Art der Geschäfte und der Zahl der Ladenleerstände. Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern eines ungewöhnlichen Straßenbahn-Seminars fiel es jedenfalls überhaupt nicht schwer, innerhalb von Sekunden lange Listen zusammenzustellen. Es war die Eingangsfrage, die Jürgen Stein seinen Passagieren in der Linie 1 stellte. "Unterwegs gegen die Armut" war ihr Thema.
Zum dritten Mal hatte das Evangelische Bildungswerk eine Bremer Straßenbahn als Seminarort ausgewählt, um Lernen, Diskutieren und unmittelbare Anschauung miteinander zu verbinden. Fahrkarten hatten noch einige mehr im Vorfeld gelöst undwaren nicht gekommen, wie Dieter Niermann, der Leiter des Evangelischen Bildungswerks Bremen anmerkte. Eingestiegen war schließlich ein harter Kern, ein gutes Dutzend wirklich Interessierte. Und zwar ausschließlich Frauen. Jede Einzelne erzählte, dass sie entweder beruflich oder ehrenamtlich mit dem Thema Armut zu tun habe – wie Natascha Hesse an ihrem Arbeitsplatz im Job-Center oder Elke Heidemann-Reitz, die sich im Mütterzentrum Tenever engagiert.
Entlang der Linie 1
Die Sonderfahrt startete am Gröpelinger Depot. Die Straßenbahn nahm Kurs auf den Gleisen der Linie 1 – und das war kein Zufall. Denn in ihrem Streckenverlauf durchquert die Bahn einige der ärmsten Stadtteile Bremens und auch einige der reichsten. Und ob ihre Fahrgäste normalerweise an der Metzer Straße aussteigen oder bis zur Norderländer Straße fahren, sagt nach wissenschaftlichen Erkenntnissen schon ziemlich viel darüber aus, wie lange sie leben werden.
Denn dass die Lebenserwartung in verschiedenen Bremer Stadtteilen sich mitunter um mehrere Jahre unterscheidet, ist statistisch erwiesen. Das Diakonische Werk hat die Linien der BSAG abgeglichen und eine Karte herausgegeben, die bezogen auf die Linie 1 Unterschiede von bis zu acht Jahren bei der Lebenserwartung zeigt. "Männer in Schwachhausen sterben durchschnittlich mit 81 Jahren, in Tenever schon mit 73 Jahren", erklärte Jürgen Stein auf der Fahrt mit der Straßenbahn.
Der Leiter des Diakonischen Werks verteilte den aktuellen Bericht über die "Lebenslagen der Stadt Bremen", in dem die Ortsteile nach Kriterien wie dem steuerpflichtigen Einkommen, der Quote der Bewohnerinnen und Bewohner mit Migrationshintergrund und der Zahl der Arbeitslosen aufgeschlüsselt wurden. Rund 100.000 Bremerinnen und Bremer – 18 Prozent der Bremer Bevölkerung – leben demnach in "privilegiertem und sicherem Wohlstand". Der durchschnittliche Horner, so ist in dem Bericht weiter zu lesen, verdient jährlich fast sieben Mal so viel wie ein Bewohner des Vahrer Ortsteils Neue Vahr-Nord.
Dass es in jeder Stadt ärmere und reiche Viertel gibt, berichteten einige der Mitfahrerinnen. "Aber ich kenne keine Stadt, die so separiert ist wie Bremen", behauptete Monika Koy, die in den 1960er-Jahren aus dem Ruhrgebiet in die Hansestadt gezogen ist.
Eine bessere gesundheitliche Versorgung, präventive Angebote, besserer Wohnraum und Bildungsangebote könnten nachhaltig und langfristig für mehr Chancengleichheit sorgen: Das ist die Überzeugung im Diakonischen Werk, so Jürgen Stein.
Bildung in Bewegung: Weitere Angebote
"Bildung in Bewegung" ist ein programmatischer Slogan des Evangelischen Bildungswerks. Im aktuellen Winterprogramm geht man dafür wieder ungewöhnliche Wege: Zum Beispiel beim Spazierengehen oder Pilgern, auf dem Segelschiff, in der Bibliothek und sogar in einer Küche. Das Programmheft Winter 2016 ist im Forum Kirche an der Hollerallee 75 erhältlich, Telefon 3 46 15 35 oder im Internet unter www.kirche-bremen.de. Suchwort ist Evangelisches Bildungswerk.
Das nächste Straßenbahn-Seminar ist für Dienstag, 1. November, geplant. Um 16.30 Uhr ist Abfahrt am BSAG-Straßenbahndepot Gröpelingen. Unter dem Motto "Tatort Kleiderschrank?!" begibt sich die Straßenbahn dann auf eine Tour zwischen Weserpark und Waterfront. Unter der Leitung von Ingeborg Mehser aus dem Team "Kirchlicher Dienst in der Arbeitswelt" der Bremer Evangelischen Kirche soll die Fahrt ein Bewusstsein für die Konsequenzen des Kleiderkonsums schaffen.
"In Deutschland hat sich durch sinkende Preise der Kleiderkonsum vervielfacht. Aber der Kleiderberg hat seinen Preis, den vor allem die Arbeiterinnen und Arbeiter und die Umwelt in anderen Ländern zahlen", sagt Ingeborg Mehser. Die Teilnahme kostet zehn, ermäßigt acht Euro. Anmeldungen werden unter www.bildungswerk.kirche-bremen.de und unter Telefon 346 15 35 angenommen.
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