
Obwohl das Auge oder der Sehnerv geschädigt sind, können blinde Menschen Lichtpunkte sehen, wenn das Gehirn mit kleinen Stromstößen stimuliert wird. Das ist aus Versuchen bekannt. An diese Erkenntnis will ein internationales Forscherteam anknüpfen und Blinden einfache Seheindrücke ermöglichen. Bei zwei Physikern der Universität Bremen laufen die Daten für dieses internationale Projekt zusammen und werden von ihnen analysiert.
Ziel der Neurowissenschaftler ist, dass blinde Menschen sich mit technischer Unterstützung in ihnen unbekannten Räumen selbst orientieren können. Sie könnten zum Beispiel sehen, wo in einem Raum die Tür ist oder ob auf der Straße ein Auto naht.
Um dieses Ziel zu erreichen, wollen sie kleinere elektrische Impulse einsetzen als bisher, die zugleich unterschiedlicher ausfallen. „Bislang können wir nur relativ große und runde Lichtflecken übermitteln, etwa ein Dutzend Lichtpunkte können gleichzeitig aufblitzen“, sagt Physiker Udo Ernst. In Zukunft wolle man mit Linien die Konturen von Gegenständen oder Personen darstellen: „Wir wollen von der Punkt- zur Strichrechnung“, erklärt Ernsts Kollege David Rotermund. „Ziel ist es, dass blinde Menschen visuelle Muster sehen können, zum Beispiel, wo ihre Kaffeetasse steht oder die Umrisse einer Person.“
Dafür muss künftigen Nutzern zunächst operativ ein Implantat ins Gehirn eingesetzt werden. Ein Elektroden-System – in etwa so groß wie eine Ein-Euro-Münze – wird in der Hirnrinde im Hinterkopf angedockt. Dort befindet sich der Bereich des Gehirns, der für das Sehen zuständig ist. Hinzu kommt eine Mini-Kamera, die in eine Spezialbrille integriert ist. Über einen kleinen tragbaren Computer oder ein dafür ausgestattetes Smartphone würden die Kamerabilder an das Implantat im Kopf übertragen.
An diesem Übergang vom Gerät zum Hirn forschen die Bremer Physiker: „Die Frage ist, wie können wir unsere Informationen so reinschmuggeln, dass das Gehirn sie versteht?“, so Rotermund. Dafür müsse man die Technik an das Gehirn anpassen. „Bisher ist es so, als ob man eine E-Mail schreiben will, dabei aber nur auf eine Tastatur haut – Input ist möglich, aber bisher nicht lesbar“, sagt Ernst. Es geht darum, die Kommunikation mit dem Gehirn zu verbessern. „Wir wollen unsere Informationen in die Sprache des Gehirns übersetzen“, sagt Rotermund.
„I see“ heißt das internationale Projekt, das fünf Forschungsgruppen verschiedener Disziplinen aus Europa und Kanada bündelt. Im Wesentlichen arbeiten sechs Experten aus drei Ländern an dem Projekt: Sie forschen im kanadischen Montreal, in Lausanne in der Schweiz sowie in Bochum und Bremen.
Während in Lausanne blinde Menschen an Testreihen teilnehmen, laufen bei den Bremern die Daten aus den verschiedenen Ländern zusammen, werden ausgewertet und weitergegeben. An der Bremer Uni gibt es schon länger einen Forschungsschwerpunkt zu visueller Wahrnehmung.
„Wir wollen auch künstliche Intelligenz einsetzen“, sagt Udo Ernst. Es dürfe nicht passieren, dass beispielsweise die Umrisse eines Baums am Straßenrand von der Prothese an das Gehirn übermittelt würden, nicht aber das herannahende Auto. Künstliche Intelligenz könne helfen, zwischen wichtigen und unwichtigeren Teilen der Kamerabilder zu unterscheiden. Für das Hören sind die sogenannten Cochlea-Implantate bereits stark verbreitet: Tausende hörgeschädigte Menschen in Deutschland nehmen Töne über ein Implantat wahr.
Immer wieder bekommen Rotermund und Ernst Post von blinden Menschen, die sich hoffnungsvoll nach ihrer Forschung erkundigen. „Es ist dann immer schmerzhaft, zu sagen, dass wir momentan noch nicht so weit sind, diese Technik in der Praxis zu nutzen“, sagt Rotermund. Sein Kollege Ernst schätzt, dass in zehn bis 15 Jahren die ersten Prototypen genutzt werden könnten.
Ende dieses Jahres oder Anfang 2022 wollen die Forscher blinde und sehende Menschen zu Workshops einladen. Blinde sollen befragt werden, was ihnen bei der Technologie besonders wichtig ist. Sehende könnten über spezielle Brillen testen, ob sie die einfachen Bilder erkennen, die man mit dem Implantat übermitteln kann. Diese Workshops sollen in Montreal, in Lausanne und in Delmenhorst stattfinden.
Dass so gebündelt und interdisziplinär zu diesem Thema geforscht werde, sei nur möglich, weil die EU Experten verschiedener Länder zusammenbringe, sagt Udo Ernst. Die Europäische Kommission fördert das Projekt mit rund 900.000 Euro. Die Forschung in Bremen wird zusätzlich durch die Iris- und Hartmut-Jürgens-Stiftung gefördert.
Vier Millionen Menschen betroffen
Nach Schätzungen des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbands leben etwa 150.000 blinde und rund 500.000 sehbehinderte Menschen in Deutschland. Weltweit sind etwa vier Millionen Menschen betroffen.
Den Bremer Neurowissenschaftlern Udo Ernst und David Rotermund zufolge könnte die Technologie, an der sie forschen, grundsätzlich fast allen Gruppen von blinden Menschen nützen, auch bei verschiedenen Ursachen von Blindheit. Denn meistens sind Erkrankungen am Auge oder am Sehnerv der Grund dafür, dass Menschen nicht sehen können. Das Gehirn kann dann dennoch Seh-Reize empfangen und verarbeiten. Nur selten sei diese Funktion der Hirnrinde getrübt, so die Forscher.
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