
Wo etwas endet, das weiß Hayati San, da gibt es Geschichten zu erzählen. Er kennt Hunderte von ihnen, traurige, lustige und verrückte, weil er oft da ist, wo etwas aufhört. Ein Leben, eine Wohngemeinschaft, eine Ehe. Hayati San handelt mit Trödel. Wenn irgendwo in Bremen ein Haushalt aufgelöst wird, ist er da, lädt kistenweise Zeug auf seinen Transporter, karrt ihn nach Walle. In der Erasmusstraße, zwischen hellgrauen und hellbraunen Wohnblöcken, betreibt Hayati San ein Gebrauchtwarengeschäft. Einen richtigen Namen hat es nicht, „Second-Hand-Shop – An- und Verkauf aller Art“ steht bei Google. Hayati San sagt nur: „mein Laden.“
Er sagt das, obwohl der Laden eher eine Halle ist, eine Art überdachter Riesenflohmarkt. 700 Quadratmeter, zwei Etagen, ein großes Lager im Keller, darüber der Verkaufsraum. Wer Hayati San besucht, muss den erst einmal suchen. Vielleicht, weil die Einfahrt weniger nach Einfahrt, sondern eher nach Hinterhof aussieht. Und weil Hinterhöfe ja manchmal sowas wie Abstellkammern sind, nur draußen. Alles, was aus dem Weg soll, sammelt sich hier, erst mal. Und meistens: ziemlich lange.
Bei Hayati San ist das anders. Bei ihm soll das so. „Ich hab so viel, das muss ja irgendwohin“, sagt er. Also nutzt er jeden Zentimeter. Links liegen mehrere Dutzend Fahrräder übereinander, ein Knäuel aus Lenkern, Rädern, Speichen. Rechts stehen Kühlschränke, daneben, darüber, dahinter stapelt sich Zeug: Blumentöpfe, Krücken, Tennisschläger, Kleintierkäfige, bunte Klappstühle, ein Plastikweihnachtsbaum.
Ein paar Schritte weiter wartet eine schwere Stahltür. Mit schwarzem Marker hat Hayati San die Öffnungszeiten darauf geschrieben: „Dienstag 11-18 Uhr, Donnerstag 11-18 Uhr, Samstag 11-16 Uhr.“ Seinen Laden betreibt der 61-Jährige allein; wenn er nicht verkauft, ist er in der Stadt unterwegs: Nachschub besorgen. Das meiste, das Hayati San verkauft, stammt von Haushaltsauflösungen. „Jemand stirbt und es ist niemand da, der das Haus leerräumen könnte. Also bezahlen die Erben jemanden, der kommt und das Zeug wegbringt.“
Jemanden wie ihn. Hayati San hat viel gesehen auf diesen Fahrten. Neulich zum Beispiel. Er musste nach Findorff, ein Paar hatte sich getrennt, wollte die gemeinsame Wohnung auflösen, gleichzeitig entrümpeln. „Als ich reinkam, stand der Mann mit einer Kettensäge im Wohnzimmer und hat alles in der Mitte durchgeteilt.“ Schränke, den Tisch, sogar Klamotten. „Zu seiner Frau sagte er: So, jetzt kannst du von allem die Hälfte haben.“ Oder ein anderes Mal. Jemand war gestorben, Hayati San sollte kommen. „Alles war noch da, Fotos hingen an den Wänden, die Zahnbürste stand noch im Bad.“ Als wäre die Tote nicht tot, sondern nur kurz einkaufen gegangen. Es sei komisch, dann diese vielen persönlichen Dinge in die Hand zu nehmen, sagt Hayati San. Aber man gewöhne sich daran.
Er muss dann entscheiden: Was kommt mit, was könnte noch jemand gebrauchen? Was kommt weg, weil es zu abgenutzt ist oder weil er schon genug davon hat? Ihm fällt das nicht leicht: Gegenstände zu entsorgen, die alt sind, aber noch gut. Er sagt: „Dinge einfach wegschmeißen, das kann ich nicht, das tut mir weh.“
Hayati San wurde in Yenice geboren, einer kleinen Stadt an der türkischen Mittelmeerküste. Seine Eltern waren Bauern, ein Hektar Land, genug zum Leben, zu wenig, um unnötig Geld auszugeben. Seine Schuhe habe erst er getragen, dann sein kleiner Bruder, dann ein anderer Verwandter. Bis sie irgendwann auseinander fielen. Hayati San findet das selbstverständlich. „Warum Sachen neu kaufen, wenn Altes noch funktioniert?“
Wer die Stahltür aufdrückt, starrt auf ein Wimmelbild. Auf Tischen, in Regalen in Schränken türmen sich Bücher und Videokassetten, angebrochene Putzmittel, alte Computer, Kabel, Gläser und Geschirr. In einem Regal liegt ein Paar Schlittschuhe neben mehreren Dosen Klarlack und einer Blechbox, auf die irgendjemand mit schöner Handschrift „Cappuccino-Kapseln“ geschrieben hat. Lampen, Marionetten und Girlanden hängen unter der Decke, an den Wänden goldgerahmte Ölgemälde, auf denen sich schneebedeckte Berge in strahlend türkisen Seen spiegeln. Irgendwo dudelt leise ein Radio.
Hayati San sitzt an einem Tisch in der Mitte des Raumes. Er ist kein großer Mann, aber hier, zwischen all seinen Funden, wirkt er winzig. „Kann ich helfen?“, ruft er rüber, wie er es immer tut, wenn jemand reinkommt, den er noch nicht kennt. Hayati San wird noch oft rufen, sein Laden ist gut besucht an diesem Dienstagnachmittag. Eine Studentin mit Nasenpiercing und Wollmütze kauft zwei originalverpackte Fotoalben und eine Fahrradklingel, ein Kunde in schwarzer Daunenjacke rote Stempelfarbe. „Die ist 20 Jahre alt und wird nicht mehr hergestellt“, sagt Hayati San. Ihn macht das froh und auch ein bisschen stolz: Dinge dazuhaben, die es sonst höchstens noch im Internet gibt.
Wenn ihm als junger Mann einer gesagt hätte, dass er irgendwann im kalten Norddeutschland mit Gebrauchtwaren handeln würde, dann hätte er das nie geglaubt, sagt er. Nach der Schule zog er nach Ostanatolien, um Agrarwirtschaft zu studieren. Zwei Semester tat er das auch, dann putschte die türkische Armee gegen die Regierung. Wie Zehntausende verließ Hayati San das Land. Als er im September 1980 in Bremen ankam, war er 20 Jahre alt.
Um schnell Geld zu verdienen, schulte er um: Feinmechaniker, danach übernahm er eine Gaststätte im Steffensweg. In der bewirtete er oft junge Seemänner, die über den damals noch florierenden Überseehafen in die Stadt kamen, aus Pakistan, Indien, der Türkei. Viele nutzten den Stopp in Bremen, um günstig einzukaufen: gebrauchte Kleidung, Schuhe und Möbel. Also fragte Hayati San Freunde, Bekannte und Kunden, ob sie etwas abzugeben hätten. Was sie ihm mitbrachten, gab er weiter. Irgendwann entwickelte sich so ein kleines Nebengeschäft, 1986 eröffnete er seinen ersten Gebrauchtwarenladen. Den betrieb Hayati San bis 2009; dann zog er um. In die Erasmusstraße.
Die ist auch um 17 Uhr noch gut besucht. Zwei Männer um die 40 streifen durch die Gänge, treffen sich zwischen den Regalen. Beide sind allein da, aber hier sind sie Kollegen. Sie sind Schatzsucher, wie jeder, der in Hayati Sans Laden kommt. Nur dass Gold hier für jeden etwas anderes ist. Unter dem Arm des einen klemmen Platten in ausgefransten Papphüllen, der andere begutachtet einen Stapel Frühstücksteller. „Die hatten wir früher auch, also das Muster“, sagt der Plattensammler und zeigt auf eine blau-weiß-geblümte Teekanne. „Als Jugendlicher fand ich das furchtbar, total kitschig, jetzt erinnert es mich an früher“, sagt der andere. Und der Plattensammler sagt: „Manchmal wird man sentimental.“
Wer von alten Gegenständen umgeben ist, das erlebt Hayati San jeden Tag, der denkt an Vergangenes. Der Händler weiß viel über seine Kunden, von denen die meisten regelmäßig kommen, oft nur mal so, um zu gucken, was es Neues gibt. Er liebt seine Arbeit, auch deshalb, vor allem aber, weil sie so oft bestätigt, was er immer schon wusste: dass es lohnt, Dinge aufzuheben. „Manchmal liegt etwas ewig rum, und dann kommt einer, der genau danach gesucht hat.“ Des einen Krempel ist des anderen Kostbarkeit.
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