
Sie sind vor 16 Monaten mit Rot-Grün-Rot als Reformbündnis angetreten. Welches Herzensanliegen mussten Sie aufschieben?
Andreas Bovenschulte: Wir sind angetreten mit dem Anspruch, Bremen wirtschaftlich stark, sozial gerecht und ökologisch nachhaltig zu machen. In all diesen Bereichen haben wir Projekte vorangetrieben. Aber die Pandemie-Bekämpfung hat viel Kraft und Zeit kostet, deshalb sind wir nicht überall so schnell vorangekommen, wie wir uns das vorgenommen haben.
Wo zum Beispiel?
Bei der Aufwertung und Weiterentwicklung der Innenstadt, da hat uns die Pandemie deutlich zurückgeworfen.
Was war Ihnen persönlich am wichtigsten?
Seit Februar steht ein Thema ganz oben: Wie kann ich das Land so gut wie möglich durch die Pandemie steuern. Ansonsten ist Bildung ein ganz großes Herzensanliegen. Ich habe mich ungeheuer gefreut, dass wir jetzt einen großen Sprung bei der IT-Ausstattung der Schulen gemacht haben und Schüler und Lehrer ein iPad bekommen. Das ist auch im Bundesvergleich ein sehr hoher Standard und – ganz wichtig – Bremen stellt die Geräte allen Schülerinnen und Schülern zur Verfügung. Es gibt hier nicht die „Klassenspaltung“ im wahrsten Sinne des Wortes, die Ausstattung ist unabhängig davon, in welchem Stadtteil die Kinder wohnen und wie viel ihre Eltern verdienen. So kommen digitaler Fortschritt, Pandemie-Bekämpfung und soziale Gerechtigkeit zusammen.
Also war hier die Krise eine Chance?
„Die Krise als Chance“, das ist eine Formulierung, mit der man sehr vorsichtig sein muss, denn die Pandemie bringt ja viel menschliches Leid mit sich. Richtig ist aber: Ohne die Pandemie hätten wir wohl nie den Elan aufgebracht, ein so großes Projekt so schnell in Angriff zu nehmen. Dafür hätte dann die politische Unterstützung gefehlt und wir hätten ein Fünfjahresprogramm daraus gemacht. Natürlich auch, weil das Geld bei uns immer knapp ist.
Was schließen Sie daraus?
Krisenbewältigung kann nicht bedeuten, genau den Zustand wie vor der Krise wiederherzustellen. Wenn schon alles in Bewegung gerät, darf man nicht ängstlich sein, sondern muss Zukunftsprojekte unterstützen, die einen voranbringen.
Mit Ihrem Amtsantritt wurde vieles in Aussicht gestellt: mehr Schulen, mehr sozialer Wohnungsbau, Verkehrswende, Armutsbekämpfung. Dann öffneten sich teure Abgründe: die städtischen Kliniken, der Flughafen. Corona hilft zumindest, davon erst einmal abzulenken, oder?
Nicht wirklich, denn die strukturellen finanziellen Probleme Bremens sind durch Corona ja noch weiter verschärft worden. Richtig ist allerdings: Die Notlagenklausel der Schuldenbremse erlaubt, dass wir die durch die Pandemie entstandenen Belastungen durch die Aufnahme von Kredite ausgleichen können. Und das ist auch richtig so. Wenn der Staat versuchte, der Krise hinterher zu sparen, setzte er eine Spirale nach unten in Gang, die alles nur noch schlimmer machen würde. So aber haben zum Beispiel Unternehmen wie Nordsee und Karstadt Sport gesagt: Wir bleiben hier.
Noch einmal: die Krise als Chance?
Na ja, die neuen Kredite müssen wir natürlich auch zurückzahlen. Außerdem dürfen wir aus dem Bremen-Fonds nur die unmittelbaren und mittelbaren Auswirkungen der Pandemie bekämpfen, weil es sonst noch teurer würde. Nur so lassen sich neue Schulden rechtfertigen.
Sie haben noch eine andere Möglichkeit zur Bewältigung der Krisenkosten ins Spiel gebracht: Was ist aus Ihrem Vorschlag eines Lastenausgleichs geworden?
Unter der Pandemie leiden nicht alle Menschen gleich, einige trifft sie stärker, andere weniger stark. Je nachdem, wo sie wohnen, was sie arbeiten, in welcher Branche sie tätig sind, und und und. Der Einzelne hat kaum Möglichkeiten, sich vor den wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie durch eigene Entscheidungen und Anstrengungen zu schützen. Deshalb können wir die durch Corona verursachten Ungleichheiten noch weniger als andere Ungleichheiten hinnehmen – zumindest nicht in einer solidarischen Gesellschaft. Es muss einen Ausgleich zwischen denen geben, die gut durch die Pandemie kommen, und jenen, denen es schlechter ergeht.
Historisch wird auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg verwiesen.
Genau, das war das Wesen des Lastenausgleichs von Konrad Adenauer 1952: Diejenigen, die den Krieg vergleichsweise gut überstanden hatten, sollten auch für diejenigen aufkommen, die viel oder alles verloren hatten. Deshalb gab es eine Vermögensabgabe. Es ging nicht darum, einfach mehr Steuern zu erheben, um die Staatskasse zu füllen, es ging um einen Ausgleich der Lasten zwischen den unterschiedlichen Teilen der Gesellschaft.
Am Ende ist es doch eine Steuererhöhung.
Am Ende ist es das, aber eben auch eine Frage ökonomischer Logik: mehr investieren, Lasten ausgleichen, Schulden abbauen und gleichzeitig die Steuern senken – das kann nicht funktionieren. Wer das behauptet, der erklärt uns auch, dass eins plus eins drei ergibt.
Trotzdem brauchen Sie dafür erst einmal politische Mehrheiten, das können Sie ja nicht allein auf bremischer Ebene umsetzen.
Das stimmt, für solch ein Vorhaben braucht man eine breite politische Mehrheit auf Bundesebene. Ich hoffe deshalb sehr, dass die Union sich an ihren Übervater Adenauer erinnert. Damals ist sie über ihren ideologischen Schatten gesprungen und hat eine 50-prozentige Vermögensabgabe durchgesetzt, allerdings auf 30 Jahre gestreckt. Das war schon eine große politische Leistung, denn damals war die CDU strukturell konservativer als heute. Man soll also die Hoffnung nicht aufgeben, dass auch die heutige Union in der Lage ist, der historischen Herausforderung gerecht zu werden.
Haben Sie denn den Eindruck, da tut sich etwas, wenn Sie mit Ihren Kollegen aus den CDU-regierten Ländern reden?
Bislang stand für uns alle die Bekämpfung der Pandemie und die Abmilderung der unmittelbaren wirtschaftlichen Folgen ganz im Vordergrund. Wir wollten die ohnehin schwierigen aktuellen Debatten nicht auch noch mit Verteilungsdiskussionen belasten. Diese werden aber ab Anfang nächsten Jahres in jedem Fall verstärkt geführt werden müssen.
Wenn man wegen der extremen Niedrigzins-Phase mit Schulden sogar Gewinne generieren kann – hätte man bei Hilfsmaßnahmen wie dem Bremen-Fonds nicht doch noch großzügiger sein können?
Meine Idee wäre da sogar noch weitergehend: Man könnte zurzeit die gesamten Schulden von Kommunen, Ländern und Bund an einer Stelle bündeln und müsste bei einer 30-jährigen Zinsfestschreibung wahrscheinlich null Prozent Zinsen zahlen. Bei einer Tilgung von ein, zwei Prozent und ein wenig Inflation wären wir den Großteil der Staatsschulden nach 30 Jahren los.
Noch eine Chance für Bremen: 30 Jahre statt 200 Jahre.
Ja, aber den dafür notwendigen politischen Willen sehe ich leider nicht. Für solch ein Projekt bräuchte man schon wegen der erforderlichen Grundgesetzänderungen eine ganz große Koalition aller demokratischen Parteien im Bund und in den Ländern, und die wird es wohl nicht geben. Dabei hätten wir genau jetzt die einmalige historische Chance, so etwas zu machen. Zumal wegen der großen Unsicherheiten, denen sich Anleger derzeit ausgesetzt sehen, ein zentraler Schuldenfonds als sicherer Hafen auch für Geldgeber attraktiv wäre.
Corona hat uns auch gezeigt, was bislang fahrlässig vernachlässigt wurde: das Pflegepersonal, insbesondere auf den Intensivstationen, und die Ausstattung der Gesundheitsämter. Hat das nun für Sie oberste Priorität?
Wir werden genau schauen müssen, welche Defizite die Krise aufgedeckt hat und wie wir die beseitigen können. So hat der Bund zum Beispiel fünf Milliarden Euro bereitgestellt, mit denen jedenfalls ein Teil der absolut notwendigen Verstärkung des öffentlichen Gesundheitsdiensts bezahlt werden kann. Aber auch künftig wird das Geld immer knapper sein als die Aufgaben, die wir erfüllen müssen.
Fünf Milliarden für Gesundheit – wenn Bremen die üblichen ein Prozent davon erhält, sind das immerhin 50 Millionen Euro.
Das kommt ungefähr hin.
Welche wichtigste Konsequenz ziehen Sie als Präsident des Senats aus diesem Krisenjahr?
So eine Krise deckt schonungslos auf, wie handlungsfähig ein Gemeinwesen ist. Wenn es je eine Irrlehre gab, dann ist es die vom schlanken und schwachen Staat. Jede Gesellschaft braucht eine starke Stütze, die sie zusammenhält. Gerade in der Krise.
Konnten Sie während der vergangenen Monate eigentlich immer gut schlafen?
Überwiegend ja. Aber nicht immer. Als unsere Infektionszahlen im Oktober regelrecht nach oben geschossen sind und wir plötzlich im Ländervergleich an der Spitze lagen, hat mich das schon sehr belastet. Da grübelt man die ganze Zeit, welche Fehler man möglicherweise gemacht hat und was man jetzt tun sollte. Vor ein paar Tagen habe ich meinen sächsischen Kollegen Michael Kretschmer angerufen und ihm gesagt: Ich weiß, wie du dich fühlst, wenn die Zahlen steigen und steigen. Das ist nicht deine Schuld, aber trotzdem macht man sich dafür verantwortlich.
Was hat Sie im zurückliegenden Jahr am meisten überrascht?
Absolut positiv: die Bereitschaft der Menschen in Bremen und Bremerhaven, harte Entscheidungen mitzutragen, auch wenn die massiv in ihr Leben eingreifen. Und das mit sehr großer Mehrheit.
Blicken wir nach vorne: Was wird für immer anders bleiben?
Viele Dinge, auch ganz alltägliche. Man wird sich zum Beispiel öfter mal fragen: Lohnt es sich wirklich, für eine zweistündige Sitzung in Berlin insgesamt acht Stunden unterwegs zu sein? Oder bleiben wir nicht lieber bei Video-Schalten?
Ihr Parteifreund Klaus Wowereit hat für Berlin den genialen Claim „Arm, aber sexy“ erfunden. Und wie sollte Bremen künftig sein?
Wenn ich es mir aussuchen dürften: reich und sexy – und gesund natürlich. Aber eigentlich ist jetzt nicht die Zeit für Kalauer. Ich würde mich freuen, wenn die Pandemie Ende des kommenden Jahres vorbei ist und die Bremerinnen und Bremer auf die Frage, wie ihr Land eigentlich so durch die Krise gekommen sei, mit der höchsten Form des Lobes antworten: „Da kann man nicht meckern.“
Das Gespräch führte Joerg Helge Wagner.
Andreas Bovenschulte (55) ist seit August 2019 Präsident des Senats, zudem Senator für Kultur und für Religionsangelegenheiten. Der SPD-Politiker ist Jurist, verheiratet und Vater von zwei Kindern.
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