
Ein weiteres Schulhalbjahr mit Corona liegt hinter uns. Es gab Präsenzunterricht, Halbgruppenunterricht, Distanzunterricht, Homeschooling, Unterbrechungen, Quarantäne – wie aussagekräftig sind die aktuellen Halbjahreszeugnisse unter diesen Umständen überhaupt?
Till-Sebastian Idel: Ich würde da unterscheiden zwischen Zeugnissen, die es im Verlauf der Schulkarriere gibt, also zwischen Zeugnissen in den Klassen 1 bis 3 und 5 bis 8 beziehungsweise 9, und den Zeugnissen an den Nahtstellen, also dort, wo es um Abschlüsse und Prüfungen geht, sprich nach der zehnten Klasse, also dem mittleren schulischen Abschluss, und dem Abitur nach zwölf beziehungsweise 13 Jahren.
Warum machen Sie da einen Unterschied?
Weil Zeugnisse an diesen Punkten unterschiedliche Funktionen haben. Außerhalb von Abschlüssen und Prüfungen haben Zeugnisse eine Rückmeldefunktion. Da geht es darum, dass Zeugnisse dem Schüler ein individualisiertes und differenziertes Feedback geben sollen. Da geht es nicht um Noten, nicht um Notendurchschnitte und in der Sekundarstufe I zumindest in Bremen auch nicht ums Sitzenbleiben.
An den Nahtstellen, wie Sie sie nennen, dagegen…
…sieht es anders aus. Noten sind in der zehnten Klasse und im Abitur eine Währung. Sie sind die Berechtigung, die man erwirbt, um weitermachen zu können. Entweder um eine Ausbildung zu beginnen, um in die Oberstufe zu wechseln oder um ein Studium aufzunehmen.
Klingt so, als könne man außerhalb der Nahtstellen gelassener mit Zeugnissen umgehen.
Ich würde das nicht gegeneinander ausspielen. Schule unter Corona ist eine wahnsinnige Herausforderung für alle Beteiligten, Lehrer wie Schüler. Es geht für die Lehrer darum, keinen Schüler zu verlieren. Das ist eine große Aufgabe, erst recht unter Coronabedingungen. Es geht bei der Unterrichtsgestaltung darum, Schülern die Möglichkeit zu eröffnen, Leistungen zu erbringen jenseits von Klassenarbeiten, ihnen alternative Prüfungsformen anzubieten. Durch Präsentationen, durch Erklärvideos, durch Vorträge und Referate, die für die Lehrkräfte so aussagefähig sind, dass sie eine fundierte Leistungsfeststellung treffen können.
Ein Erklärvideo kann eine Klausur ersetzen, eine Präsentation den Test?
Absolut. In dem Moment, wo wir nicht über Abschlussprüfungen sprechen, gibt es keinen Grund, diese Formen nicht zu nutzen. Da sind der didaktischen Kreativität keine Grenzen gesetzt.
Wie wird das im Alltag umgesetzt?
Es gibt noch keine empirischen Daten darüber. Aber in Bremen sind die Rahmenbedingungen im Vergleich zu manch anderen Bundesländern gut. Jeder Lehrer und Schüler hat inzwischen ein i-Pad. Das war ein Kraftakt. Es gibt die Lernplattform Itslearning seit Jahren. Eine digitale Infrastruktur ist also vorhanden. Es ist die Frage, was die Schulen und Lehrer daraus machen. Ich bin da aber sehr optimistisch. Ich habe die Bremer Lehrerschaft als außergewöhnlich engagiert kennengelernt, als Lehrkräfte mit einem besonders hohen Berufsethos.
Wenn in diesen Wochen über Abschlüsse und Prüfungen geredet wird, ist die Aufregung größer. Der Niedersächsische Schulleitungsverband plädiert dafür, auf Abschlussprüfungen zu verzichten und stattdessen eine Durchschnittsnote zu nehmen. Der Philologenverband ist dagegen, er will die Abiturprüfungen beibehalten. Wie sehen Sie das als Bildungswissenschaftler?
Als Bildungswissenschaftler würde ich dafür plädieren, dass man nicht auf die Abschlussprüfungen verzichtet, aber nicht in dem Sinne, dass man sagt: Wir ziehen das durch wie immer und setzen am Ende einfach die Noten um Komma x herauf. Sondern so, dass man alle Möglichkeiten der Anpassung wahrnimmt.
Das heißt?
Die Kultusministerkonferenz hat eine Vereinbarung getroffen, die den Rahmen absteckt, in dem das Abitur angepasst werden kann. Dazu gehört die Reduzierung der möglichen Prüfungsthemen. Dazu gehört, das Schuljahr wiederholen zu können, ohne dass es angerechnet wird. Dazu gehören mehr Wahlmöglichkeiten bei den Themen in der Klausur, und dazu gehört eine verlängerte Lernzeit, also die Abiturprüfungen um vier Wochen zu verschieben. Ich weiß, dass gerade Letzteres kontrovers diskutiert wird. Ich bin aber insgesamt davon überzeugt, dass man nur über Anpassungen am ehesten allen Schülern gerecht wird und insbesondere denen, die nicht unter optimalen Bedingungen zu Hause arbeiten müssen.
Es gibt Eltern und Schüler, die sich sorgen, dass die Abschlüsse unter Coronabedingungen als nicht vollwertig angesehen werden, Stichwort Corona-Abitur. Wie berechtigt ist diese Sorge?
Ich will sie nicht kleinreden. Aber formal ist die Sache völlig klar: Die Kultusministerkonferenz hat die Vereinbarung getroffen, dass die Bundesländer wechselseitig die Abschlüsse anerkennen. Es gibt keinen Stempel mit dem Aufdruck Corona-Abitur auf dem Zeugnis. An den Universitäten zählt der NC und nicht, ob das Abitur aus einem Corona-Jahr stammt. Die Sorge ist eher, wie Unternehmen bei der Vergabe von Lehrstellen damit umgehen. Was es auf dem Arbeitsmarkt bedeutet, wenn ich mit anderen konkurriere. Ich glaube aber, dass es da von den Betrieben ein sehr großes Verständnis für die Situation gibt. Wir müssen ja alle mit den Auswirkungen der Pandemie leben.
Das Gespräch führte Marc Hagedorn.
Till-Sebastian Idel (52) ist Professor für Erziehungswissenschaft an der Uni Oldenburg. Er forscht im Themenfeld der Gestaltung, Veränderung und Reform von Schule und pädagogischer Professionalität. Vorher war er mehrere Jahre an der Uni Bremen tätig.
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