
Herr Kotzab, Ihrer Einschätzung nach sind die Deutschen Gewohnheitstiere, was den Einkauf von Lebensmitteln betrifft. Online-Lieferdienste haben es in diesem Feld schwer, sagen Sie. Warum?
Herbert Kotzab: Es gibt eine ganze Reihe von Gründen. Ich verfolge das Thema seit den 1990er-Jahren. Damals war ich noch Universitätsassistent in Wien, als eine Gastprofessorin aus Chicago berichtete, sie würde ihre Lebensmittel nur übers Internet ordern und sich von einem lokalen Supermarkt liefern lassen. Wenn man sich das vor Augen führt, was sich daraus in den vergangenen 25 Jahren hätte entwickeln können, muss man sagen, dass nicht viel passiert ist. Warum? Das Hauptproblem ist die Zustellung, da hat man in den vergangenen Jahren, trotz diverser Versuche, keine großen Fortschritte machen können.
Inwiefern?
Für viele Lieferdienste ist die sogenannte letzte Meile schwer zu überwinden, also der Weg vom Lager oder vom Verteilzentrum bis zur Haustür des Kunden. Die Kunden sind verstreut über den ganzen Stadtteil, das treibt die Kosten in die Höhe. Der Weg führt durch die verstopfte Stadt und zieht sich so in die Länge. Darüber, wie diese letzte Meile überwunden werden kann, möglichst umweltbewusst, zerbrechen sich Logistiker seit Jahren die Köpfe.
Amazon will mit Drohnen Pakete ausliefern, in Hamburg fahren Roboter die Pizza in manchen Vierteln aus. Wird sich das nicht durchsetzen?
Pilotprojekte dieser Art gab es schon sehr viele, bislang hat sich nichts durchsetzen können. Bei manchen Versuchen mussten Mitarbeiter den Roboter begleiten, um Passanten auf ihn aufmerksam zu machen und Unfälle zu verhüten. Dass das wenig Sinn macht, leuchtet jedem ein. Es gibt einige kleinere Testfelder, beispielsweise in britischen Universitätsstädten, wo die Auslieferung mit Robotern gut funktioniert. Aber die Lebensmittelbranche ist eine Hochfrequenzbranche, ein solcher Lieferdienst braucht also sehr viele Kunden, um sich durchzusetzen. Stellen Sie sich vor, auf den Gehwegen fahren Dutzende Roboter, vor denen sich Passanten in Acht nehmen müssen. Dass das in Zukunft genehmigungsfähig ist, schon allein aus Sicherheitsgründen, kann ich mir schlecht vorstellen.
Das „Handelsblatt“ berichtete vor wenigen Tagen, dass Anbieter namens Gorillas und Flink, bei denen Lebensmittel per App geordert werden können, „in einem Milliardenmarkt um die Vormacht in deutschen Metropolen kämpfen“. Und weiter: „Die blitzschnelle Lieferung soll dem Onlinehandel mit Lebensmitteln den wirklichen Durchbruch bringen.“ Geliefert werden – mit E-Bikes – Artikel aus dem eigenen Sortiment und eigenen Lagern, die sich über die Städte verteilen.
Ja, ich habe von diesen Anbietern gehört. Oft funktionieren solche Angebote in einem kleinen Testgebiet mit einem übersichtlichen Sortiment für eine bestimmte Zielgruppe. Deshalb beginnen diese Experimente auch in den großen Metropolen. Aber das Geschäftsmodell scheitert dann auf der Fläche. Ich habe gelesen, dass schon allein die Schneefälle vor einigen Tagen die Kuriere massiv behindert haben.
Ist es nicht richtig, dass die Pandemie die Nachfrage nach Lebensmittel-Lieferdiensten erhöht hat? Branchenexperten gehen davon aus, dass der Anteil an sogenanntem E-Food im Lebensmittelhandel auf sechs bis 16 Prozent im Jahr 2030 steigen kann, aktuell liege er unter zwei Prozent.
Keine Frage, Corona hat zu mehr Nachfrage geführt, und diese Nachfrage wird in den nächsten Jahren sicher auch weiter steigen. Die Frage ist nur: Welche Zielgruppe wird den Online-Lebensmittelhandel tatsächlich etablieren? Für Bremer beispielsweise ist es momentan gar nicht so einfach, online Lebensmittel zu bestellen. Man bekommt keine Termine oder es dauert, bis man beliefert wird, oder die Lieferkosten sind so hoch, dass das nur für eine ganz bestimmte Klientel infrage kommt.
Warum tun sich die Deutschen mit dem Onlineeinkauf von Lebensmitteln so schwer? Sie bestellen bei Amazon, lassen sich fertige Pizzas oder Getränke liefern – was hindert sie?
Der Einkauf von Lebensmitteln im Supermarkt ist habitualisiert. Für viele Menschen ist der Wocheneinkauf ein Ritual, andere möchten sich inspirieren lassen. Die Kunden legen Wert auf Auswahl, Frische und Beratung. Wer vor einem Berg von Tomaten steht, möchte sich die schönste aussuchen, beim Lieferdienst bekommt er irgendeine. Beim Kauf von Milchprodukten fischt man das heraus, was ein möglichst langes Mindesthaltbarkeitsdatum trägt. Diese Kontrolle fällt beim Lieferdienst weg.
Was ist mit dem Faktor demografischer Wandel? Wenn immer mehr und immer ältere Menschen weitgehend selbstständig zu Hause leben können, aber nicht mehr gut zu Fuß sind oder nicht mehr Auto fahren können - ist das nicht eine vielversprechende Kundschaft?
Im Grunde schon, aber vor allem für ältere Menschen kann der Einkauf die einzige Aufgabe sein, die sie noch haben, das Einzige, was den Tag oder die Woche strukturiert, oder sogar einer der wenigen Anlässe, bei dem sie Kontakt zu anderen haben. Außerdem darf man nicht vergessen, dass es ohne PC oder App nicht geht. Nicht alle Senioren haben Lust, sich damit auseinanderzusetzen.
Aber es gibt sicher auch Menschen, die nicht gerne einkaufen gehen, die genervt sind von den Schlangen an der Kasse und bei denen es auf den Cent nicht ankommt.
Da haben Sie vollkommen recht. Es gibt Menschen, die solvent sind und auch andere Arbeiten outsourcen, um Zeit zu sparen, die sie für anderes brauchen – von der Reinigungskraft bis zu Wäscherei, die die Hemden wäscht und bügelt. Die Frage ist, wie groß diese Zielgruppe ist und ob sie beispielsweise in einer Stadt wie Bremen groß genug ist, um einen profitablen Lieferdienst aufzuziehen. Ich kann mich an den US-amerikanischen Lieferdienst Webvan erinnern, der in ganz USA täglich weniger Kunden angesprochen hat, als ein Supermarkt um die Ecke. Diese Branche lebt aber von der Frequenz, das heißt, von der Häufigkeit des Einkaufs. Wenn online Lebensmittel bestellt werden, lohnt es sich für den Verkäufer also nur bei Artikeln mit hoher Gewinnmarge, bei einem gehobenen Sortiment für anspruchsvolle Kunden, für die auch die Lieferkosten nicht ins Gewicht fallen.
Warum klappt es in anderen Nationen – wie Sie aus Chicago schilderten – besser?
Das liegt nicht nur, aber auch am deutschen Lebensmittelgesetz. Beispielsweise bedarf es eines gewissen Aufwands, gekühlte oder gefrorene Waren zu liefern. Tiefkühlwaren und Frischfleisch oder Fisch bedürfen einer strikten Kühlkette. Der Verbraucher kann den Fisch ungekühlt im Auto herumfahren, der Lieferant darf das nicht. Schon dieser Aufwand treibt die Kosten in die Höhe.
Offenbar spielen für potenzielle Kunden Umweltschutzfragen auch eine immer größere Rolle – schon der Verpackungsmüll kann von Bestellungen abhalten.
Das ist richtig, die Vermeidung von Verpackungsmüll beim Einkaufen wird immer wichtiger. Auch das ist ein Problem für Lebensmittel-Lieferdienste. Damit sensible Waren wie Gemüse und Obst oder Lebensmittel im Glas in tadellosem Zustand bei den Kunden ankommen, müssen sie ordentlich verpackt werden. Wir befassen uns an unserem Lehrstuhl, gemeinsam mit dem Bremer Institut für Produktion und Logistik, in einem Forschungsprojekt mit der Frage, wie sich Umweltbewusstsein mit der Bequemlichkeit des Online-Shoppings kombinieren lässt.
Und? Lässt es sich kombinieren?
Die ersten Ergebnisse unserer Studien zeigen, dass Kunden am liebsten die Lieferung innerhalb weniger Stunden mit einem E-Bike erhalten wollen. Das stelle ich mir bei manchen bestehenden Strukturen sehr schwierig vor. Bietet aber wiederum Möglichkeiten für neue Geschäftsfelder für Gorillas oder Flink.
Das Gespräch führte Silke Hellwig.
Herbert Kotzab ist Wirtschaftswissenschaftler. Er lehrt seit 2011 an der Uni Bremen allgemeine Betriebswirtschaftslehre und Logistikmanagement und forscht seit Jahren zum Thema Logistik von Handelsunternehmen.
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