
Herr Sperlich, die Corona-Pandemie gilt gemeinhin als Stunde der Exekutive. Angesichts der zahlreichen Gerichtsverfahren zu Maßnahmen zur Eindämmung von Covid-19, allein in Bremen waren es im vergangenen Jahr 183 Verfahren – schlägt hier nicht auch die Stunde der Judikative?
Peter Sperlich: Ich glaube schon. Solche gravierenden Grundrechtseinschränkungen wie innerhalb des letzten Jahres hatten wir im Prinzip ja noch nie zuvor. Normalerweise sind es überwiegend bestimmte Bevölkerungsgruppen, die das Verwaltungsgericht kennenlernen, vor allem Asylbewerber und nichtdeutsche Staatsangehörige. Jetzt haben wir eine Situation, wo jede Bürgerin und jeder Bürger massiv von Grundrechtseinschränkungen durch den Staat betroffen wurde und viele sich dagegen zu Wehr setzen.
Müsste den Verwaltungsjuristen doch eigentlich freuen. Wenn eine Vielzahl von Menschen plötzlich wahrnimmt, wie wichtig Grundrechte oder das Prinzip der Verhältnismäßigkeit sind?
Tatsächlich haben wir dadurch eine ganz andere Wahrnehmung erfahren. Aber auf die Pandemie und die damit verbundene Aufmerksamkeit für die Verwaltungsgerichtsbarkeit hätte ich gut verzichten können. Für uns alle ist das ausgesprochen anstrengend, weil wir hier wirklich im Schweinsgalopp Entscheidungen treffen müssen. Das ist eine Geschwindigkeit, die wir so noch nicht erlebt haben. Durch die fortlaufenden Überprüfungen der ganzen Verordnungen und Einschränkungen ist man quasi in die Rolle des ständigen Kontrolleurs gedrängt und steht dadurch auch unter einer Art Dauerbeschuss.
Zumal Sie ja in den allermeisten Fällen keine guten Nachrichten für die Klagenden hatten. Hatte überhaupt mal jemand in Bremen Erfolg?
Doch, es gab sogar einige solcher Verfahren. Aktuell haben wir am OVG gerade der Betreiberin mehrerer Sonnenstudios in Bremerhaven recht gegeben. Die entsprechende Regelung wurde von wegen Verstoßes gegen Gleichbehandlungsgrundsatz in Hinblick auf die geöffneten Tattoostudios und Nagelstudios als rechtswidrig angesehen. Ich erinnere mich auch an einen erfolgreichen Eilantrag im Zusammenhang mit der Öffnung von Shisha-Bars in Bremen. Und in zwei oder drei Fällen haben wir durch Hinweisschreiben erreicht, dass das Land Bremen von sich aus schon im Vorfeld die Verordnung geändert hat. Aber überwiegend, da haben Sie recht, waren die Anträge nicht erfolgreich. Was allerdings keine bremische Besonderheit, sondern bundesweit zu verzeichnen ist.
Was macht Ihre Entscheidungen so schwierig?
Die Entscheidung hängen natürlich sehr von der Beurteilung der aktuellen Gefährdungslage ab. Man kann als Verwaltungsgericht an diese Sachen sehr kleinteilig herangehen, man kann das Ganze aber auch großzügiger betrachten. In Situationen, wo die Infektionslage besonders ausgeprägt ist, werden die Maßnahmen dann doch eher gehalten. Die Frage ist auch, inwieweit man dem Verordnungsgeber eine Einschätzungsprärogative zugesteht. Wenn Tatsachen so unklar sind und Folgen nicht richtig eingeschätzt werden können, räumt man der Exekutive einen größeren Entscheidungsspielraum ein.
Auch auf die Gefahr, dass die Gerichte dann als Erfüllungsgehilfe der Exekutive kritisiert werden?
Ja, auch auf diese Gefahr hin. Gerichtliche Entscheidung sind im Moment auch immer der Kritik ausgesetzt. Der Einfluss der Verwaltungsgerichtsbarkeit besteht aber auch da, wo die Landesregierungen quasi im vorauseilenden Gehorsam bestimmte Dinge gar nicht erst tun. Wir haben doch jetzt schon häufiger erlebt, dass in der politischen Diskussion von einschränkenden Maßnahmen Abstand genommen wurde, weil man davon ausging, dass sie vor Gericht keinen Bestand haben würde. Ich glaube, ohne diese Funktion der Gerichte würde manche Regelung deutlich unüberlegter erfolgen.
Ihnen geht es dabei in erster Linie um die Verhältnismäßigkeit der einzelnen Regelung?
Richtig. Es ist nicht unsere Aufgabe, neue Regelungen zu schaffen oder zu sagen, was die bessere Regelung hätte sein können. Es geht immer nur darum – und ich glaube, das wird manchmal vergessen –, dass wir überprüfen, ob die Regelungen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und Gleichbehandlung widersprechen. Und dabei nimmt man eben die einzelne Regelung in den Blick und nicht das gesamte Regelungssystem.
Das Gespräch führte Ralf Michel.
Peter Sperlich (55) ist seit 1996 als Richter in Bremen tätig. Seit 2019 ist er Präsident des Oberverwaltungsgerichts.
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