
In Oslebshausen wird am helllichten Tag in einem Supermarkt ein Mann erschossen, am selben Tag wird im Viertel ein 20-Jähriger erstochen. Was ist los Bremen?
Jörg Schulz: Auch wenn beide Geschehnisse nach allem, was mir bekannt ist, nicht im Zusammenhang stehen, haben sie mich und sicherlich auch viele Bremerinnen und Bremer erschüttert. Die Vorfälle unterstreichen vor allem die Notwendigkeit einer schnell und effektiv arbeitenden Polizei und Justiz. Für die Gewährleistung der Sicherheit ist es unerlässlich, dass Straftaten, die das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung massiv beeinflussen, konsequent verfolgt und geahndet werden.
Aber gerade solche Vorfälle verunsichern doch das Vertrauen der Bürger in Recht und Ordnung.
Wenn das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung durch extremistische Bedrohungen, Geschehnisse wie die Silvesternacht von Köln, Ausschreitungen im Zusammenhang mit dem G20-Gipfel in Hamburg oder auch durch eine Gruppe von Intensivtätern in einem bestimmten Stadtteil oder durch kriminelle Clans beeinträchtigt wird, dann ist hier das Gewaltmonopol des Staates herausgefordert und gefordert.
Was folgt daraus?
Klar sein muss, dass es in einem demokratischen Prozess ausgehandelte Regeln gibt, die ausnahmslos für alle gelten. Und ebenso, wie der Staat die Regeln setzt, so muss er sie auch durchsetzen. Zunächst mit der Polizei und dann mit der Staatsanwaltschaft und den Gerichten sowie schließlich mit dem Strafvollzug. In einem Rechtsstaat bedarf es einer starken Polizei und einer starken Justiz statt des Rechts des Stärkeren. Alles andere würde unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt sprengen.
Wenn davon die Rede ist, dass sich viele Bürger nicht mehr sicher fühlen, steht in erster Linie die Arbeit der Polizei im Fokus. Aber trägt nicht auch die Justiz dazu bei? Zum Beispiel mit zu milden Urteilen für Straftäter?
Zunächst einmal: Die Sicherheit der Bevölkerung kann ohne die Justiz überhaupt nicht gedacht werden. Wenn Sie dann beim Sicherheitsgefühl vermeintlich zu milde Urteile der Strafjustiz ansprechen, sitze ich hier sicherlich nicht als Oberrichter einer unabhängigen Justiz. Ich sage auch nicht, die Urteile der bremischen Strafjustiz sind zu milde, Ihr müsst immer alle noch ein paar Monate draufpacken und Strafen auch nicht immer auf Bewährung verhängen. Das steht mir erstens gar nicht zu. Und zweitens weiß ich auch nicht, ob es tatsächlich richtig ist, dass die Bürger das so empfinden.
Aber Sie kennen diesen Vorwurf?
Natürlich. Der Vorwurf der zu milden Justiz ist ja auch nicht wirklich neu. Und das Bewusstsein der Menschen hat sich da in den letzten Jahren wohl tatsächlich verändert. Aber wenn jemand meint, da muss nur mal richtig draufgehauen werden und dann funktioniert alles, ist das eine bisschen einfache Vorstellung. Das hieße ja, wenn die Strafe nur richtig hart ausfällt, ist dieser Täter keine Gefahr mehr für die Sicherheit der Bürger.
Aber was ist mit der abschreckenden Wirkung von härteren Strafen?
Die abschreckende Wirkung der Strafe ist ein wichtiger, aber eben nur ein Aspekt, wenn wir über Wiederholungstäter und kriminelle Strukturen sprechen. Den Ansatz, allein mit hohen Strafen einen Sinneswandel zu erreichen, teile ich überhaupt nicht. Er ist nach den Ergebnissen der kriminologischen Forschung auch nicht zutreffend.
Oft zu hören ist auch der Satz, dass die Gesetze ausreichen würden, aber viele Richter deren Rahmen nicht ausschöpften.
Das Argument, dass nicht bei jeder Sache, die große Öffentlichkeit hat, die Gesetze geändert werden müssen, ist ja völlig richtig. Und sicher gibt der Strafrahmen häufig noch eine ganze Menge her. Aber die Strafe, die ausgesprochen wird, muss Tat und Schuld angemessen sein. Dann sind wir gerecht im konkreten Fall.
Dann nehmen wir doch einen konkreten Fall: Vor Kurzem hat eine Frau mit ihrem Pkw eine Radfahrerin verfolgt und sie anschließend krankenhausreif geschlagen. Und einen Mann, der dem Opfer zu Hilfe eilen wollte, gleich noch dazu. Verurteilt wurde sie zu einer überschaubaren Geldstrafe und einem Monat Fahrverbot.
Sie werden verstehen, dass ich, vor allem auch ohne nähere Kenntnisse der genauen Hintergründe, hier keine Bewertung vornehmen kann. Wissen Sie etwas über die Vorgeschichte, über das Vorleben dieser Frau? Hatte sie Vorstrafen, oder ist es das erste Mal, dass sie auffällig geworden ist? Und ist zu erwarten, dass sie wieder in dieser Weise auffällig wird? Über solche Fragen sprechen wir ganz konkret. Die Suche nach der gerechten Strafe ist sehr anspruchsvoll und ein hochkomplexer Vorgang, in dem viele Aspekte, selbstverständlich auch die Auswirkungen auf das Opfer, zu berücksichtigen sind.
Polizisten erzählen, dass Täter sie auslachen. Entwickelt sich hier eine Parallelkultur? Noch einmal das genannte Gerichtsverfahren: Da wurde berichtet, dass die Angeklagte den Zeugen am Tatort gedroht habe: „Wir kommen mit 20 Autos wieder und machen euch alle platt.“ Offenbar gibt es bei manchen Bürgern keinerlei Bewusstsein mehr für die Regeln unseres Rechtsstaates.
Da bin ich völlig auf Ihrer Seite. Der Respekt vor der Rechtsordnung ist ein unschätzbarer Wert für das Funktionieren unserer Demokratie, der verteidigt werden muss.
Und was kann die Justiz dazu beitragen?
Indem sie Straftaten zeitnah aburteilt.
In dem zitierten Fall lag mehr als ein Jahr zwischen Tat und Prozess. Entsprechend schlecht erinnerten sich die Zeugen. Geradezu ein Fest für die Verteidigung.
Dass zwischen der Tat und ihrer strafrechtlichen Ahndung nicht allzu viel Zeit verstreichen sollte, ist allseits bekannt. Zu bedenken ist aber, dass es auch einige Zeit in Anspruch nehmen kann, bis alle Beweise und Zeugenaussagen gesichert sind, die Anklage erhoben wurde und schließlich der Gerichtstermin anberaumt werden kann.
Trotzdem: Wenn denn die Bedeutung des Zeitfaktors allseits bekannt ist, warum gelingt es nicht, entsprechend zu handeln?
Ich will mal so sagen: Der Stellenwert der Justiz in Deutschland und die Bereitschaft, dafür Geld einzusetzen, sind verbesserungswürdig. Die Justiz als dritte Gewalt hat in der aktuellen politischen Diskussion nicht den Stellenwert, den sie eigentlich haben müsste. Man darf bei der ganzen Debatte über Sicherheit den Blickwinkel nicht auf die Forderung „Wir brauchen mehr Polizei“ reduzieren. Aber genau das geschieht immer wieder.
Klingt ein wenig wie Neid auf die Polizei.
Nein. Wir sind die letzten, die sich gegen mehr Polizei aussprechen. Aber wir sagen, dass es damit allein nicht funktioniert. Schon allein, weil wenn die Polizei erfolgreich ermittelt, am Ende auch immer eine Menge Arbeit für die Justiz dabei herauskommt. Die Schwierigsten von den Schwierigen landen am Ende bei uns, erst vor Gericht und dann im Justizvollzug. Und statt nur wegzusperren, ist es unser Ziel, ein zukünftiges Leben ohne Straftaten zu erreichen. Das muss man mitdenken.
Stehen Sie nicht gerade an dieser Stelle vor völlig neuen Herausforderungen? Zum Beispiel der Umgang mit extremistischen Gefährdern im Strafvollzug?
Genau das ist der Punkt. Wenn wir über innere Sicherheit sprechen, kann man den Blickwinkel nicht auf polizeiliche Aufgaben beschränken. Denn wenn eine solche Person rechtskräftig verurteilt ist und in den Strafvollzug kommt, dann ist sie dadurch ja nicht weniger gefährlich geworden. Das heißt dann aber auch, dass die Ansprüche und die Herausforderungen für die Mitarbeiter des Strafvollzuges deutlich zugenommen haben.
Wo liegen die Probleme?
Sprachbarrieren, kulturelle Barrieren, vor allem aber bei der Frage, wie wir mit unseren Vorstellungen von Strafvollzug solche Personen überhaupt erreichen können. Ziel des Strafvollzuges ist ja, dass sie an dessen Ende so gefestigt sind, dass sie ohne weitere Gesetzesverstöße Teil dieser Gesellschaft werden können. Das ist eine riesige Herausforderung für die Mitarbeiter der Justizvollzugsanstalt.
Der Sie wie begegnen?
Aktuell wird das Sicherheitskonzept der JVA insbesondere im Bereich Radikalisierung überarbeitet. Es gibt Fortbildungen zum Thema Extremismus und Deradikalisierung, es gibt Einzelfallbetreuung, wenn eine radikalisierte Person im Justizvollzug ist. Wir haben auch Fortbildungen und Programme zur Suizidprävention laufen, und wir haben auf die gestiegenen Haftzahlen mit einer erheblichen personellen Nachsteuerung reagiert. Dabei sind wir mit den Justizvollzügen der anderen Bundesländer und auch europaweit eng vernetzt, um einen bestmöglichen Wissensaustausch beim Umgang mit Extremisten zu erreichen.
Hessen hat sogenannte Strukturbeobachter, die in der JVA gezielt darauf achten, ob hinter den Mauern Menschen radikalisiert werden. Ein Modell auch für Bremen?
Genau hierzu wird das Sicherheitskonzept der JVA bearbeitet. Ob man sich letztlich genau für das hessische Modell entscheidet, weiß ich noch nicht. Aber ich weiß, dass eine stringente Überwachung von Gefährdern und Extremisten auf allen Stationen stattfindet und zugleich ein enger Austausch mit den Sicherheitsbehörden besteht. Wir schauen uns die Konzepte anderer Bundesländer genau an und wollen für uns den fachlich richtigen Weg finden. Hinzu kommen Erkenntnisse von unseren europäischen Partnern, aus der kriminologischen Forschung, von Psychologen und Sicherheitsspezialisten. Wie gelingt Resozialisierung mit dieser neuen Gefangenenklientel?
Was aber mit Mehrausgaben verbunden sein dürfte?
Richtig. Am Ende sprechen wir über Personal und über Geld. Die besondere Qualität dieser Arbeit erfordert ausreichende Personalressourcen, denn sie ist zeitintensiver als einfach wegzuschließen. Das muss anerkannt werden. Dazu gehört auch die Wertschätzung der Mitarbeiter. Und damit meine ich nicht nur Schulterklopfen, sondern auch eine Gleichbehandlung bei der Besoldung. Da gibt es im Vergleich mit der Polizei zum Beispiel bei den Zulagen für Dienste am Wochenende oder nachts heute noch eine deutliche Diskrepanz.
Sie haben ein ganzes Bündel von Problemen benannt. Wo sehen Sie konkrete Ansatzpunkte für Lösungen?
Zunächst einmal muss dies alles in den Köpfen der Entscheidungsträger ankommen, um Veränderungsfähigkeit und Veränderungsbereitschaft zu bewirken. Darauf kommt es an, denn ich glaube, dass den meisten Leuten die neue Situation und ihre Herausforderungen noch gar nicht richtig bewusst sind. Wir dürfen das Thema Sicherheit nicht nur auf den Bereich Polizei beschränken, sondern müssen es genereller angehen und auch als ein Thema von Justiz und Strafvollzug begreifen.
Das Interview führte Ralf Michel.
Zur Person:
Jörg Schulz ist seit Mai Staatsrat beim Senator für Justiz und Verfassung. Der Jurist und gebürtige Niedersachse, Jahrgang 1953, war unter anderem 17 Jahre lang als Richter in Bremen tätig. Von 1999 bis 2011 war der Sozialdemokrat der Oberbürgermeister von Bremerhaven.
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