
Frau Wehrmann, Sie machen sich um die Familienpolitik auf Bundes-, aber auch auf bremischer Landesebene Sorgen. Was bekümmert Sie?
Ilse Wehrmann: Ich denke, wir haben die Themen Kinder und Bildung in den zurückliegenden Monaten viel zu wenig in den Mittelpunkt gestellt. Die Corona-Krise benachteiligt Kinder und Frauen massiv. Mir fehlt der Willen, dieses Problem gemeinsam zu lösen und Konzepte zu entwickeln. Ich erlebe eine Konzeptionslosigkeit in der Familienpolitik – in Deutschland insgesamt, aber auch im Land Bremen.
Bitte schildern Sie genauer, was Ihrer Meinung nach fehlt.
Ich kenne auf Bundesebene bislang kein Programm für die Bundestagswahl, dass die Kinder und Familien in den Mittelpunkt stellt. Es werden Auto- und Klimagipfel veranstaltet, aber haben Sie schon mal etwas von einem Kinder- oder Familiengipfel gehört? Ich nicht. Wenn Klimapolitik nachhaltig sein muss, warum soll das nicht auch für Familienpolitik gelten.
Allerdings haben ein Auto- und ein Klimagipfel durchaus etwas mit Familien zu tun, mit dem Sichern von Arbeitsplätzen von Vätern und Müttern und einer umweltfreundlichen Zukunft.
Das stimmt. Gute Wirtschaftspolitik denkt Familie, denkt Bildung immer mit. Gute Familien- und Bildungspolitik ist Wirtschafts-, ist Zukunftspolitik. Das kommt allerdings nicht von allein, dafür müssen der Bund und die Länder ihre Hausaufgaben machen. Ich will und werde mich nicht damit abfinden, dass bundesweit, aber auch in Bremen weiterhin Betreuungsangebote für Kinder fehlen. Eine Familie, eine Mutter, die ihr Kind nicht gut behütet weiß, kann keine Arbeit aufnehmen.
Man kann allerdings auch nicht sagen, dass nichts für Familien getan wird: Das Kindergeld wurde erhöht, das Baukindergeld eingeführt, das Gute-Kita-Gesetz wurde verabschiedet.
Das ist richtig, aber Alleinerziehende, von denen in Bremen sehr viele ohne Arbeitsplatz sind, haben nichts vom Baukindergeld. Das Gute-Kita-Gesetz in Bremen sorgt für drei beitragsfreie Kindergartenjahre, die für Familien mit wenig Geld ohnehin kostenlos war – anstatt das Geld in Personal und Qualitätssicherung zu investieren. So enthalten wir Kindern Entwicklungs- und Bildungsmöglichkeiten vor, gerade auch in den sozialen Brennpunkten. Ich behaupte, dass die Entwicklung eines Kindes in den ersten sechs Jahren maßgeblich von der Finanzkraft einer Kommune und dem Familienbild des Bürgermeisters abhängt.
Wie meinen Sie das?
Die Entwicklung eines Kindes hängt davon ab, ob der Bürgermeister beziehungsweise der Senat frühzeitig für ein ausreichendes Betreuungs- und Bildungsangebot gesorgt hat.
Jeder Bürgermeister, jede Regierung wird doch betonen, wie wichtig ihnen Familien sind.
Bestimmt. Aber es passiert nicht genug. Nicht in Bremen, nicht im Bund. Die Bundeskanzlerin hätte Familienpolitik schon längst zur Chefsache erklären müssen, eben wie die Lage der Automobilbauer.
Im Sommer vor einem Jahr berichtete der „Focus“, dass die Geburtenrate zwischen 2006 und 2018 deutlich gestiegen sei, auch familienfreundliche Politik habe ihren Anteil daran.
Es hat sich sicher manches zum Besseren gewendet, aber es reicht noch lange nicht. Ich habe den Eindruck, dass einiges für Mittelschicht-Familien getan wird, aber weniger gut gestellte Familien und Alleinerziehende bleiben auf der Strecke. Oft wird doch eher Politik für die gemacht, die sich selbst helfen können, siehe Baukindergeld. Die Alltagsprobleme von Familien sind für die Regierungsmitglieder in Berlin weit, weit weg. Sie sind viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, in der Krise mehr denn je. Eigentlich muss man sagen, dass dieser Gesellschaft die Liebe zu Kindern fehlt. Man muss sie ganz anders in den Blick nehmen, ihnen die Pandemie erklären und sich für ihren Verzicht bedanken.
Und in Bremen?
Die Landesregierung bemüht sich, das will ich ihr nicht absprechen. Aber alles dauert hier viel zu lange. Es fehlt an Pragmatismus und Beherztheit, an Flexibilität und Mut. Wer konkret tätig werden will, muss sehr langen Atem haben. Den haben aber nicht alle. Wir brauchen ein Ruck in Deutschland und in Bremen für Familienpolitik.
Das Gespräch führte Silke Hellwig.
Ilse Wehrmann war Abteilungsleiterin der Bremischen Evangelischen Kirche und Vorsitzende der Bundesvereinigung Evangelischer Tageseinrichtungen für Kinder. Heute berät sie Politik und Wirtschaft.
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