
Kinder spielen in verschiedenen Ecken des Raumes, die einen im Bällebad, die anderen mit Bausteinen. Dann schlägt ein Kind einen Gong an. Die Kinder der Fische-Gruppe wissen jetzt: Gleich geht die Zeit für freies Spielen zu Ende, der Morgenkreis beginnt. Rituale bestimmen den Tagesablauf in der Kita der evangelischen Kirche in Lüssum. Das Ende des Spielens wird in einer festen Form und im Singsang verkündet. Und zum gemeinsamen Zähneputzen singt eine Mitarbeiterin ein Zähneputz-Lied.
Jedes Kind hat einen festen Platz an einem festen Frühstückstisch, jede Gruppe hat ein Tier. Wir sind an diesem Tag in der Fische-Gruppe zu Gast. Und der Tag bei den Fischen beginnt mit dem Morgenkreis. „Feste Strukturen geben Halt“, sagt Erzieher Benjamin Döbbelin-Scheele. „Wir versuchen, so viel wie möglich zu ritualisieren. In einem offenen Konzept zur Förderung würden die Kinder sich verlaufen.“
Nachdem die Kinder ihr Spielzeug beiseite geräumt haben, setzt sich Döbbelin-Scheele mit der Gruppe und seinen Kolleginnen in einen Kreis. Was auffällt: Wenn er spricht, sprechen seine Hände mit. Die wichtigsten Aussagen unterstreicht der Erzieher mit Gesten. Für „zu Hause“ formt er ein dreieckiges Dach, für „Hunger“ reibt er sich den Bauch, für „jetzt“ deutet er mit dem Finger vor sich auf den Boden.
Die vielen Handzeichen sind kein Zufall, dahinter steckt ein Konzept: „Gestenunterstützte Kommunikation“ heißt es, und es wird schon in einer ganzen Reihe von Kitas bundesweit umgesetzt. Das Lernen der Sprache soll dadurch erleichtert werden. Kinder, die noch wenig Deutsch können, können anhand der Gesten erahnen, um was es geht und sich leichter neue Worte erschließen.
Mehr als 130 Kinder werden in der Kita in Lüssum betreut. Zur Kita gehören auch eine Krippe und ein Hort. Doch längst nicht alle Kinder im Stadtteil, die einen Kita-Platz und eine gezielte Förderung gut gebrauchen könnten, bekommen ihn auch: Auf der Warteliste der Einrichtung standen zuletzt 37 Kindergartenkinder und 22 Krippenkinder.
Die Familien der Kinder, die Glück hatten und hier einen Platz bekommen haben, stammen aus 12 verschiedenen Ländern. Jedes zweite Kind hat einen Migrationshintergrund, sagt Kita-Leiterin Jutta Wedemeyer: „Wir leben Vielfalt.“ Sie betont: Viel mehr als die unterschiedliche Herkunft der Einwandererfamilien sei im Kita-Alltag etwas anderes spürbar: „70 Prozent der Eltern hier beziehen staatliche Leistungen wie Hartz IV oder Sozialhilfe, das ist das größere Problem als der Umgang mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen.“ Viele Kinder leben bei alleinerziehenden Müttern, viele Eltern seien traurig, gestresst und fühlten sich allein gelassen.
"Feste Strukturen geben Kindern Halt"
Dem setzt die Kita gemeinsame Erlebnisse entgegen. Heute geht es in der Fische-Gruppe um das Schmecken: Walnuss, Birne, Apfel, Schokolade, all das hat Benjamin Döbbelin-Scheele klein geschnitten und in Schalen gefüllt. Zuerst dürfen alle Kinder Nuss-, Obst- und Schokoladenstücke kosten. Sie sollen beschreiben, wie es schmeckt. Daraus entsteht ein Spiel: Ein Kind bekommt die Augen verbunden und erhält zwei Kostproben. Es soll herausschmecken, was es auf dem Löffel hat. „Es geht um Förderung mit allen Sinnen“, erklärt der Erzieher später: Ein interessanter Nebeneffekt: Die Kinder reißen sich förmlich darum, etwas Neues zu probieren – das Spiel sorgt für Neugier und Wettkampf-Geist.
Diese gezielte Förderung findet in einem Gebiet statt, das als sozialer Brennpunkt gilt: Direkt neben der Kita reiht sich Wohnblock an Wohnblock. Rund um die Abfallcontainer neben den Gebäuden breiten sich an mehreren Stellen Müllkippen aus. Schmale Rasenstreifen trennen die Blocks. In diesen Gebäuden wohnen viele, die bei der Wohnungssuche sonst nicht leicht fündig werden: Große Familien und Bewohner, deren Miete das Amt zahlt. Zuletzt erlebte kein anderer Stadtteil in Bremen soviel Zuwanderung aus dem Ausland wie Blumenthal.
Viele Familien, die neu nach Deutschland kamen, zogen in die Wohnblocks der Vonovia ein: Denn hier gab es rund 100 Wohnungen, die zwar nicht in gutem Zustand waren, die aber günstig und groß sind und leer standen. Traurige Schlagzeilen machte Lüssum in Blumenthal auch, als hier in der Silvesternacht 2016 ein 15-jähriger syrischer Flüchtlingsjunge angegriffen wurde und an seinen Verletzungen starb – auch das geschah ganz in der Nähe der Kita, in der wir an diesem Tag zu Gast sind.
In der Fische-Gruppe ist nun Zeit fürs Frühstück. Die Kinder sitzen an Tischen mit verschiedenen Farben, Benjamin Döbbelin-Scheele frühstückt am roten Tisch. Neben ihm sitzt ein Junge aus Syrien, der nicht viel sagt: Er ist noch neu in Deutschland, geht erst seit Oktober in die Kita und lernt gerade Deutsch. Die anderen Kinder am Tisch erzählen stolz, welche Sprachen sie können. „Ich kann schon ein bisschen Englisch“, sagt Ole. „Ich kann Arabisch“, sagt sein Nachbar Majd, der akzentfrei Deutsch spricht. „Ich kann auch Russisch“, sagt Daniel. Und Elyesa spricht Deutsch und Türkisch.
"70 Prozent der Eltern beziehen staatliche Leistungen"
Das ist ein Teil von Bremens Gesellschaft von morgen, die hier am Tisch sitzt. Die gemeinsame Sprache ist vorrangig Deutsch, aber mehrsprachig ist fast jeder in der Gruppe, das ist für die Kinder völlig selbstverständlich. Klar ist trotz der gemeinsamen Rituale: Die Probleme im Stadtteil sind nah und präsent, auch in der Kita. Manche Kinder werden das ganze Wochenende vor dem Fernseher geparkt, andere kommen hungrig zum Kindergarten oder haben keine passende Winterkleidung, erzählen Kita-Mitarbeiter. Am Frühstückstisch ist an diesem Tag dennoch eine freundliche und vergnügte Runde versammelt, in der die Kinder sich höflich gegenseitig darum bitten, das Essen rüberzureichen: „Die Butter bitte von Daniel“, sagt Majd.
Die Kita ist auf die Situation im Stadtteil eingestellt: Durch besonders ausgebildetes Personal, aber auch durch spezielle Konzepte. Inklusion von Kindern, die beeinträchtigt sind und die Integration von Kindern, die noch nicht gut Deutsch sprechen, sollen gezielt gefördert werden. Kitas in Brennpunkten können als sogenannte Schwerpunkt-Einrichtungen zusätzliche Mittel für mehr Personal bekommen.
Die Kita in Lüssum ist so eine Schwerpunkt-Kita und wird vom Bundesfamilienministerium gefördert. Personell sieht Leiterin Wedemeyer ihre Einrichtung gut aufgestellt: In der Fische-Gruppe mit 20 Kindern arbeiten zwei Erzieher, eine persönliche Assistenz für ein Kind mit Beeinträchtigung und für ein paar Wochen zusätzlich ein junger Mann, der als Freiwilliger an einem Austauschprogramm teilnimmt.
So eine Personalausstattung gibt es längst nicht in jeder Bremer Kita. Und vor allem nicht in jeder Schule, das gibt Jutta Wedemeyer zu bedenken. In den Grundschulen im Stadtteil, in die viele Kita-Kinder später wechseln, gebe es deutlich mehr Probleme: Größere Klassen und weniger Lehrkräfte, die eine spezielle Ausbildung für Inklusion und Integration haben. In der Kita dagegen haben viele Erzieher eine Zusatzausbildung für den Umgang mit Mehrsprachigkeit und Inklusion.
Eine weitere Besonderheit: Die Kita ist angebunden an das direkt daneben liegende Haus der Zukunft, ein Familienzentrum und Mehrgenerationenhaus. Dort gibt es Mittagessen, Ausflugs- und Kulturangebote, aber auch Beratung für Eltern. Erfahren Erzieherinnen in der Kita im Gespräch mit Eltern von Problemen, dann können sie diese direkt auf kurzem Weg an Beraterinnen im Haus der Familie nebenan vermitteln.
Zur Sache
Bundesweite Bildungstests wie der IQB-Report bescheinigten Bremen zuletzt erneut dramatische Ergebnisse: Jeder vierte Viertklässler erfüllte die Mindeststandards beim Lesen nicht, jeder dritte verfehlte die Mindestanforderungen beim Rechnen. In den 9. Klassen sieht es ähnlich aus, das zeigte der vorherige IQB-Report: Jeder dritte Schüler in Bremen konnte deutsche Texte nicht ausreichend gut lesen.
In dieser Serie werfen wir einen vertieften Blick in die Praxis: Wo sehen Bremerinnen und Bremer, die im Alltag mit den Kindern und Jugendlichen zu tun haben, die Ursachen für diese Probleme? Was müsste sich ändern, um wirklich etwas zu verbessern? Und: Was funktioniert heute schon gut?
Diese Serie lässt sieben Praktiker zu Wort kommen: Erzieher und Lehrerinnen, Ehrenamtliche und Ausbilder von Firmen, Jugendliche und Eltern erzählen. Zusätzlich zur aktuellen Berichterstattung über Studien und Bildungstests wollen wir einen Einblick in den Alltag von Bildung in Bremen bieten und waren für Sie vor Ort.
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