
Seltsam bekannt erscheinen einem viele Phänomene aus der Geschichte der Migration. Wenn heute von professionellen Schleusern die Rede ist, fühlt sich Diethelm Knauf an die Auswandereragenten im 19. und 20. Jahrhundert erinnert. „Moderne Schleuser sind zwar sicher viel krimineller“, sagt der Migrationshistoriker. Strukturell gebe es aber erstaunliche Parallelen zwischen damals und heute. Ein historisches Beispiel mit Bremer Bezug: der umtriebige Friedrich Missler, der eine florierende Auswanderungsagentur in Diensten des Norddeutschen Lloyd betrieb.
In seinem neuen Buch „Wo du leben willst, da gehe hin..." nähert sich Knauf dem Thema Migration nicht nur von historischer Seite. Vielmehr versucht er, die Bögen zu schlagen zwischen Migration gestern und heute. Was heute die Schleusernetzwerke sind, seien früher ausgedehnte Agentennetzwerke in den Abwanderungsregionen des Kontinents gewesen. Polnische Historiker seien sich sicher: „Ohne Missler wäre das Auswandererfieber in Polen weitaus geringer ausgefallen.“ Seine Subagenten warben kräftig, mit kleinen Geschenken köderten sie die Kundschaft.
Eigentlich sollte das neue Buch von Knauf ein Jahr früher erscheinen. „Aber dann kam Corona dazwischen“, sagt der 68-Jährige. Nun ist ein Band erschienen, aus aktuellem Anlass angereichert um ein Anfangskapitel zur Migration in Zeiten der Pandemie. „Pandemie ist der Gegenspieler der Migration“, sagt der frühere Leiter des Landesfilmarchivs. Bei der Suche nach den Schuldigen komme ein „bekanntes Muster“ zum Tragen: Fremde – diesmal die Chinesen – würden bezichtigt, das Virus eingeschleppt zu haben. Ein Muster, das den Schuldzuweisungen gegenüber „den Juden“ in Zeiten der mittelalterlichen Pest-Epidemien gleiche.
Auch die Umweltproblematik als Triebfeder von Migration ist alles andere als neu. „Heute sind es die Klimaflüchtlinge aus Bangladesch“, sagt Knauf. Früher habe es das vereinzelt auch schon gegeben. Als Beispiel nennt er das ungewöhnlich kalte Jahr 1816. Die Ursache dafür: ein Vulkanausbruch in Indonesien, der Unmengen von Staub und Asche in die Erdatmosphäre schleuderte. Drei Jahre währte die Abkühlung des Weltklimas. Die Folgen ließen nicht lange auf sich warten. „Ernteeinbußen, Hungersnöte, Preissteigerungen, Unwetter und Überschwemmungen – und danach ein deutlicher Anstieg der Auswanderung.“
Sei es früher die Industrialisierung gewesen, die den finanzstarken Norden zum Magneten für Zuwanderung machte, so sei es heute die Globalisierung. In der Tradition des Kolonialismus würden internationale Konzerne die Rohstoffvorkommen im Süden ausbeuten, der gleichzeitig als Absatzmarkt diene. „Werden aber die Existenzbedingungen der einheimischen Bevölkerung ruiniert, lösen sich soziale Gefüge auf – ein immenser Schub für Abwanderungsprozesse.“ Migration sei immer ein Reflex auf miserable Lebensbedingungen, kombiniert mit einem resignativen Moment – der Hoffnungslosigkeit, dass es jemals besser werde.
Geht es um die Lebensbedingungen von Migranten in ihren Herkunftsländern, sprechen die Fachleute von „Push-Faktoren“. Knauf sieht in diesen das wesentliche Element von Migration. Eines, das weitaus mehr Wirkungskraft entfaltet als die „Pull-Faktoren“, womit die tatsächlichen oder imaginierten Bedingungen in den Zielländern von Migrationsbewegungen gemeint sind. „Die Menschen kehren ihrem Heimatland den Rücken wegen der Situation, die sie kennen.“
Doch was bedeutet Migration für das Zielland Deutschland? Knauf setzt sich für eine Debatte über deutsche Identität ein. „Wir müssen darüber sprechen, was eigentlich deutsch ist“, sagt er. „Solange wir an einem homogenen Bild von Deutschland festhalten, werden wir es ziemlich schwer haben.“ Von der gern verwendeten Wortfindung „Migrationshintergrund“ hält Knauf nicht viel. In seinen Augen handelt es sich in erster Linie um einen Terminus, um dem Begriff „Einwanderer“ zu umgehen. „Aber warum braucht man dieses Distinktionsmerkmal überhaupt noch?“
Schon längst sei Deutschland ein Einwanderungsland, so Knauf. Aus diesem Umstand leitet er eine klare Maßgabe ab. „Als Einwanderungsland müssen wir das Staatsbürgerrecht anpassen.“ Bislang ist man nicht automatisch deutscher Staatsbürger, wenn man in Deutschland geboren ist. Vielmehr muss ein Elternteil mindestens acht Jahre in Deutschland leben oder ein unbefristetes Aufenthaltsrecht haben.
Für Knauf ist das eine unnötige Verkomplizierung, er plädiert stattdessen für ein viel schlichteres Modell. „Alle, die in Deutschland geboren sind, sollten Deutsche sein“, sagt er. Das Konstrukt einer doppelten Staatsbürgerschaft hält er dagegen nicht für hilfreich. Und einen Nachteil im Verlust des Doppelpasses kann Knauf auch nicht erkennen. „Nur eine einzige Staatsbürgerschaft zu besitzen, würde ja nicht bedeuten, dass man seine Kultur aufgeben muss“, so Knauf. Die sei dann eben auch Bestandteil der deutschen Identität.
Zahl der Einbürgerungen steigt
Nach Angabe des Statistischen Landesamts waren im September 2020 von 679.000 Einwohnern des Landes Bremen knapp 128.000 nicht-deutsch, ein Anteil von 18,9 Prozent. Unter den insgesamt 112.130 Ausländern in der Stadt Bremen weist das Statistische Jahrbuch 20.485 türkische Staatsangehörige aus. An zweiter Stelle liegen 13.475 Menschen aus dem Bürgerkriegsland Syrien. Es folgen Staatsangehörige aus Polen (8235), Bulgarien (6710), Afghanistan (3150), Rumänien (3050) und Russland (2950). Die Zahl der Einbürgerungen ist seit 2017 kontinuierlich gestiegen, 2019 lag sie bei 1543. Die mit Abstand meisten Neubürger der Stadt Bremen stammen aus der Türkei (265), es folgen mit großem Abstand Polen (82) und der Irak (58). Aufgeteilt nach Kontinenten, wurden zumeist Europäer eingebürgert. An zweiter Stelle liegen Asiaten, an dritter Afrikaner.
Diethelm Knauf: Wo du leben willst, da gehe hin… Edition Temmen, Bremen. 120 Seiten, 15,90 €.
Ob Bahnhof, Marktplatz, Weserstadion oder Schlachte: Das Bremer Stadtbild hat sich im Laufe der Zeit erheblich verändert. Wir berichten über vergessene Bauten, alte Geschichten und historische Ereignisse.
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Danke =)
Ich hab hier auch gar nicht den Anspruch, hier jemanden zu bekehren. Ich diskutiere einfach nur gerne und nutze das ...