
Zumindest einen festen Platz im Leben hat Udo gefunden: die „Wilde Bühne“. Seit Dezember 2018 gehört der 30-jährige Bremer dem Ensemble von suchtkranken Menschen an, das Sucht- und Gewaltprävention mit künstlerischen Mitteln thematisiert. Vor zweieinhalb Jahren hat Udo, der seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will, mit einer Entwöhnung in einer Fachklinik motiviert den Kampf gegen seine Alkoholsucht aufgenommen.
Doch die Coronavirus-Krise belastet auch seine Seele. Die Beschränkungen hätten Probleme hochgespült, so der Bremer, die er durch seine Sucht verdrängen wollte: Selbstzweifel und -anklage, Einsamkeit sowie eine fehlende Lebensperspektive. Gerade hatte er beim Improvisationstheater Erfolg, da kam der Lockdown. Udo fiel in ein „tiefes Loch“. Das hat ihm vor Augen geführt, dass seine Alkoholsucht nur „stillgelegte“ Krankheit ist. Seit einem dreiviertel Jahr ist er wieder „trocken“ – und will es bleiben.
Udos Biografie ist nicht ungewöhnlich. Mit 13 konsumiert er zum ersten Mal Alkohol. „Das war normal, als Jugendlicher am Wochenende zu trinken“, erzählt der im ländlichen Umland Bremens Aufgewachsene. „Mit Alkohol war ich locker drauf, das fiel mir sonst schwer“, sagt Udo. „Da war ich laut und lustig, gehörte dazu“, habe er gedacht. Und je mehr er trinke, umso größer die Akzeptanz und Anerkennung.
Mit 19 greift er täglich zur Flasche. Durch das Studium in Münster und den Auszug von Zuhause „war ich auf mich allein gestellt“. Diese Erkenntnis ist kein Befreiungsschlag für Udo, sondern erzeugt innerlichen Druck: „Ich musste meinen Platz im Leben finden“, erinnert er sich, „konnte mir aber nicht vorstellen, dass es einen für mich gibt.“
Da er im Studium schnell erkennt, dass Chinawissenschaften und Philosophie ihn nicht interessierten, verschiebt er die Prioritäten aufs Feiern. „Ich war komplett unzufrieden mit mir“, schildert Udo. Das führt letztlich dazu, dass er Studium und Freunde vernachlässigt und sich nur noch zu Hause allein betrinkt. „Ich habe Alkohol als Antidepressiva genutzt“, weiß er. Und bei „Heimatbesuchen“ hätten Familie und Freunde das Ausmaß seiner Sucht nicht mitbekommen, weil die Anlässe oft „feucht-fröhliche Treffen“ gewesen seien, erzählt der 30-Jährige, betont wiederholt er sein „gutes Verhältnis“ zur Familie.
Nach eineinhalb Jahren bricht Udo das Studium ab, beginnt eine Ausbildung zum Bankkaufmann in Hamburg. Da er dafür alle Kräfte gebraucht hätte, habe er seinen Alkoholkonsum reduziert, spricht Udo die zweijährige Zeit des kontrollierteren Trinkens an. Der Suchtkranke weiß genau, „wie viel und was ich verkraften kann, um zu funktionieren.“ Mit der darauf folgenden Festanstellung wird ihm indes jeden Tag bewusster: „Auch das ist nichts für mich.“ Wieder setzt die Abwärtsspirale ein. Sein 20-minütiger Heimweg wird zur „Kiosktour“.
In einem „kleinen Moment der Klarheit“ am Ende des ersten Berufsjahres beschließt er, einen Neuanfang ohne Alkohol in seiner alten Heimat zu wagen. Zum Wintersemester 2015 schreibt sich Udo an der Uni Bremen für Wirtschafts- und für Kulturwissenschaften ein. Ein Jahr hält er durch, ehe er erkennt: „Auch das ist nicht meins.“ Danach steuert er auf seinen „alkoholischen Tiefpunkt“ zu: „Ich habe in meiner kleinen zwölf Quadratmeter großen Wohnung in Gröpelingen nur noch getrunken“, sagt er. „Denn gefühlt bin ich bei allem gescheitert, was ich probiert habe, um meinen Platz im Leben zu finden.“
Udos Vater unterstützt ihn finanziell, trotzdem braucht der junge Mann sein Erspartes und geht drei Mal in der Woche zur Blutplasmaspende, um an Geld für Wein im Tetrapack und Nachos zu kommen. Er fühlt sich als „völliger Versager“. Udo steigert sich in Selbsthass hinein – bis zur bewussten Selbstzerstörung: „Es ging nur noch darum, mich zu betrinken bis ich wieder einschlafe.“ In dieser Phase stirbt 2016 sein Großvater. Da er seiner Mutter beistehen will, lässt er 28 Tage die Finger vom Alkohol. Als alles geregelt ist und die Verarbeitungsphase beginnt, wird der Suchtkranke rückfällig.
Zwischenzeitlich hat sich seine Mutter einer Gruppe für Eltern von alkoholabhängigen Kindern angeschlossen. Sie hat früh erkannt, dass sie ihrem Sohn nicht helfen kann, er aus eigenen Antrieb handeln muss, und dass sie selbst psychologischen Beistand benötigt. Durch ihre Erfahrungen und Schilderungen daraus und den Tod seines Stiefvaters 2018 fasst Udo den Entschluss, ernsthaft einen stationären Entzug durchzuziehen: „Da war mir klar: Jetzt ist meine Mutter ganz allein, da muss ich für sie da sein – und da bleiben.“
Von September bis Anfang Dezember 2018 macht der Suchtkranke einen stationären Alkoholentzug in der Fachklinik in Bassum. Danach folgt eine einjährige ambulante Therapie bei der Caritas in Bremen. Udo lernt dabei Achtsamkeit, sich selbst zu akzeptieren und wertzuschätzen, ebenso seine Charakterschwächen anzunehmen.
Durch eine Mitpatientin kommt er Ende 2018 zur „Wilden Bühne“. Beim Probenbesuch ist er so fasziniert vom offenen Umgang der Ensemblemitglieder mit ihrer Sucht, dass er gleich selbst mitmacht. Nach kleineren Bühnenauftritten wird er eingebunden, wenn sich die Darsteller dem offenen Dialog mit dem Publikum stellen. Sein Steckenpferd ist Improvisationstheater. „Beim Theaterspielen habe ich gemerkt, dass ich das kann, einen Mehrwert für die Gesellschaft habe“, sagt er. Zudem tut ihm der Zuspruch des Leitungstrios gut: Er verfüge über den persönlichen Wissensschatz über Sucht und die Gefahren, „den wir brauchen, denn dir glauben sie das“ habe es mit Blick auf den Präventionsansatz geheißen.
Normalerweise stehen drei, vier Termine für die „Wilde Bühne“ auf Udos Kalender. Er empfindet es als hilfreich, bei seinem ehrenamtlichen Engagement mit seiner Biografie und Sucht konfrontiert zu werden. „Ich will meine Geschichte nicht vergessen“, sagt der Bremer, der heute in Schwachhausen und von Hartz-IV lebt. Im Februar 2020 hat er sich als Promoter selbstständig gemacht. Doch durch Corona kann Udo diesen Job nicht mehr ausüben. Er vermisst Besuche bei Freunden und kämpft gegen die Einsamkeit. „Von April bis Juni 2020 war ich rückfällig“, steht er zu seinem Rückschlag.
Dass er die Flasche nun wieder zu lässt, verdanke er dem Leitungsteam der „Wilden Bühne“, sagt er: „Die haben sich richtig Sorgen gemacht, alle Tage angerufen und gefragt, wie es geht, ob ich Hilfe brauche, aber wollten mich zu nichts überreden. Das hat den Genuss verdorben, dass ich deren Leid verschlimmere, es war kein befreiendes Trinken und nicht schön, wieder zu lügen.“
Inzwischen darf sich die Arbeitsgruppe „Wilde Bühne“ einmal pro Woche zur Probe auf Distanz treffen. „Ich bin richtig froh, dass es weitergeht“, sagt Udo, der Theaterkunst als „befreiend“ erlebt. Um „trocken“ durch diese schwierige Zeit und möglichst auch die danach zu kommen, sucht er sich weitere Fixpunkte im Alltag: „Es tut mir gut, jeden Tag rauszugehen“, erzählt er. „Ich lese viel und habe sogar zu backen angefangen.“
„Wilde Bühne“
Die „Wilde Bühne“ ist ein Verein mit dem Schwerpunkt Sucht- und Gewaltprävention mit künstlerischen Mitteln. Herzstück ist das 14 Akteure umfassende Theaterensemble suchtkranker Menschen. Es tritt bundesweit in Schulen, Jugendhäusern, Theatern und auf Fachveranstaltungen auf. Durch ihre Biografie können die Schauspielerinnen und -spieler in Gesprächsrunden im Anschluss an Aufführungen aus eigenem Erleben in einem offenen Dialog mit den Zuschauern über die Themen Leben mit und ohne Drogen, Angst, Grenzerfahrungen, Lebenskrisen, Mobbing, Internet, Gewalt und Isolation sprechen. Die Wilde Bühne wurde 2003 von den diplomierten Theaterpädagoginnen Michaela Uhlemann-Lantow und Jana Köckeritz gegründet. Seit 2017 verstärkt der Schauspieler und Dozent Pablo Keller das Leitungsteam. Mehr online unter https://www.wilde-buehne-bremen.de.
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