
Das Reich von Jessica Lewerentz misst zwölf Quadratmeter. So klein wie möglich wollte sie mit ihrem Unternehmen starten. Mehr Platz braucht die 34-Jährige aber auch gar nicht, um ihren Kunden am Ende ein Strahlen ins Gesicht zu zaubern. In ihrem Gröpelinger Kelleratelier näht die Modedesignerin Jacken, Pullover oder Hosen für Menschen mit körperlichen Besonderheiten. Ihre Stammkunden, das sind Rollstuhlfahrer, an Multiple Sklerose Erkrankte und neuerdings auch Sehgeschädigte und Blinde – also Menschen, denen das Einkaufen in einem Kaufhaus oder einem herkömmlichen Bekleidungsgeschäft schwerfällt.
Jessica Lewerentz hat es sich zur Aufgabe gemacht, das zu ändern. „Jeder soll die Möglichkeit haben, das zu kaufen, was er gerne möchte – nicht das, was es gerade so gibt“, sagt die junge Frau. Sie möchte ihren Kunden zu mehr Eigenständigkeit verhelfen, zu einem selbstbestimmteren Leben, in dem sie sich ohne fremde Hilfe an- und wieder ausziehen können. Für ihre Gründungsidee ist sie mit ihrem Unternehmen „Fadenstolz – Kleidung nach Maß“ am Mittwochabend von der Handwerkskammer und der Sparkasse Bremen mit dem Preis „Innovatives Handwerk 2015“ ausgezeichnet worden. In den weiteren Kategorien Nachhaltigkeit sowie Gesellschaftliche Verantwortung wurden die Handwerksbetriebe August Hespenheide und Hairliner’s geehrt. Die Auszeichnung ist mit insgesamt 6000 Euro dotiert.
Lewerentz habe es geschafft, ein neues Marketingkonzept und eine Marktlücke zu heben, lobte Martina Jungclaus, Hauptgeschäftsführerin der Handwerkskammer Bremen, am Mittwoch die Preisträgerin. Die Jury sei beeindruckt von der Intention der jungen Frau: Menschen mit Behinderung ein Stück weit Normalität zu bringen.
Wenn Jessica Lewerentz von ihrer Arbeit erzählt, legt sich ein wenig die große Aufregung, die mit der Nachricht vom Preisgewinn eingesetzt hat. „Erzählen kann ich“, sagt die junge Frau, die ihre Hände in den Schoß gelegt hat und sie in den ersten Minuten stetig knetet. Und dann erzählt sie. Wie sie zu Schulzeiten statt für die Englischprüfung zu lernen, lieber genäht hat. Wie sie über eine Freundin zu ihrer Ausbildung zur Schneiderin kam. Wie sie arbeitslos wurde. Und wie sie die Arbeitslosigkeit als Chance verstanden hat, um das zu tun, was sie immer tun wollte.
Zunächst einmal startete ihre Karriere in einem doch recht ungewöhnlichen Umfeld: Sie lernte in einer Bremer Schneiderei, die sich auf Profi-Tänzer spezialisiert hatte. Den Grün-Gold-Club, das Weltmeister-Paar Oxana Lebedew und Franco Formica – all diese Sportler hat Lewerentz für ihre Turniere einst eingekleidet. Und das, obwohl sie nach eigenen Angaben überhaupt keine Affinität zum Tanzen hat, sich selbst sogar als „absolute Betonelfe“ bezeichnet. 2005 wurde sie Direktrice, übernahm also die Leitung des Ateliers, 2011 machte sie neben der Arbeit ihren Betriebswirt. Dann kam der große Bruch. Die Schneiderei musste sparen und tat das an der Stelle, wo das meiste Gehalt gezahlt wurde, Lewerentz hatte plötzlich keinen Job mehr. „Man hat mir damals einen großen Gefallen getan“, sagt sie im Nachhinein. Sie wisse nicht, ob sie selbst den Mut gefasst hätte, zu kündigen. Innerhalb von zwei Jahren machte sie ihren Meister und gründete ein eigenes Unternehmen, Fadenstolz.
Zu ihrer speziellen Geschäftsausrichtung kam die heute 34-Jährige eher per Zufall. Eigentlich habe sie sich auf Übergrößenmode spezialisieren wollen, doch dann erzählte ihre Schwester von einer Arbeitskollegin, die im Rollstuhl sitzt und Probleme hatte, schöne Kleidung zu finden. „Damals habe ich mich zum ersten Mal mit dem Thema auseinandergesetzt“, erinnert sich Lewerentz.
Die Kunden kamen im Anschluss von ganz allein. Zunächst über Mundpropaganda, dann über die Firmen-Website und einen Artikel in der Zeitung. Dabei verfolgt die Schneiderin die gleiche Intention wie fast alle Designer: „Meine Mode soll Spaß machen.“ Nur mit dem kleinen Unterschied, dass ihre Entwürfe für Menschen gemacht sind, die im Rollstuhl sitzen, die sich ansonsten in der Optik aber nicht von herkömmlicher Kleidung unterscheidet. „Es gibt Rollstuhlfahrer, die tragen nur noch Jogginghosen oder Leggings, weil sie bequem sind“, sagt die Schneiderin. „Das kann gut aussehen. Aber viele Menschen wünschen sich ganz einfach eine klassische Jeans, die nicht kneift.“
Mittlerweile ist Lewerentz so gut wie jeden Tag unterwegs. Ihre Kunden besucht sie zuhause, um vor Ort Maß zu nehmen und um mit ihnen darüber zu sprechen, was sie sich wirklich wünschen. „Ich möchte Lieblingsstücke nähen“, sagt sie. Gut 300 Euro kostet beispielsweise eine Hose. Dafür kommt die Schneiderin mehrfach zur Anprobe, erstellt ein Schnittmuster, besorgt den gewünschten Stoff – und näht. Ist das Maß erst einmal genommen, reduzieren sich die Kosten für die weiteren Stücke.
Oftmals ist im Umgang mit den Kunden Fingerspitzengefühl gefragt. Lewerentz spricht mit ihnen darüber, was für sie ein Lieblingsstück ausmacht, gemeinsam schaut man sich den Kleiderschrank an. Viele Menschen gehen offen mit ihrem Handicap um, erzählen der Schneiderin, wie es dazu gekommen ist, dass sie im Rollstuhl sitzen. „Dann fängt es bei mir im Kopf schon an zu arbeiten: Was macht die Krankheit für sie aus, wie kann ich sie mit meinen Entwürfen unterstützen?“
Und irgendwann kommt dann der Moment, der für Lewerentz die Belohnung ihrer Arbeit ausmacht: „Bei meinem ersten Besuch freuen sich die Menschen darüber, dass sie sich etwas gönnen. Bei der zweiten Anprobe sehen sie dann, was sie sich ausgesucht haben und fangen oft an, strahlend zu lächeln. Und dann, wenn ich ihnen das fertige Stück vorbeibringe, vergessen sie meist ganz, dass ich da bin“, sagt die 34-Jährige. „Dann gibt es nur noch den Spiegel und sie.“ In solchen Momenten, schleiche sie sich gerne aus dem Zimmer, um ihren Kunden Zeit ganz allein für sich zu geben. „Und ich habe solche Schmetterlinge im Bauch – da kann der Tag noch so schlecht gestartet sein, spätestens dann ist er für mich gerettet.“
Neuerdings entwirft Lewerentz auch Kleidung für Blinde. An den Saum stickt sie in Blindenschrift die jeweilige Farbe des Stücks. Denn Menschen, die nicht sehen können, verknüpfen Farben mit einer bestimmten Haptik oder mit einem Geschmack. Gelb zum Beispiel wird mit der Sonne und ihrer Wärme verbunden, braun eher mit der Kühle der Erde.
Leben kann Jessica Lewerentz noch nicht von ihrem Unternehmen. Aber das, so hofft sie, wird sich sehr bald ändern. Die Tage in der Werkstatt werden seltener. „Das ist gut, denn das bedeutet, dass die Zahl meiner Kunden steigt“, sagt sie. Büroarbeit, Buchhaltung – das sei alles nicht so ihres, so die 34-Jährige. Dass sie daran etwas ändern muss, das weiß die junge Frau. Schon jetzt hat sie aus ihrem Kelleratelier in Gröpelingen aber etwas erreicht, das sie komplett verändert hat: „Durch meine Arbeit habe ich gelernt, das Leben anders zu sehen.“ Viele Kunden gingen mit einer unheimlich positiven Einstellung in den Tag. „Und davon versuche ich mir jeden Tag eine große Scheibe abzuschneiden.“
◼ Neben Jessica Lewerentz wurden die Betriebe August Hespenheide und Hairliner’s mit dem Preis „Innovatives Handwerk“ ausgezeichnet. Die Firma August Hespenheide habe es geschafft, so Handwerkskammer-Chefin Jungclaus, Arbeits- und Gesundheitsschutz zu implementieren. Jeder Mitarbeiter des Malereibetriebs nimmt eine Mappe mit auf die Baustellen, in der Gefährdungsbeurteilungen etwa für Farben und Lacke aufgeführt sind und mit deren Hilfe sie sich außerdem über geeigneten Arbeitsschutz für ihre jeweilige Aufgaben informieren können. Jeder Angestellte wird zudem mehrfach zum Thema geschult. Im Januar startet bei August Hespenheide ein Gesundheitsprogramm, das Rückenuntersuchungen, eine Arbeitsplatzbeurteilung und ein gesundes Frühstück für alle beinhaltet. In der Kategorie Gesellschaftliche Verantwortung hat sich Hairliner’s durchgesetzt. Das Unternehmen trage, so Jungclaus, durch internationale Integration zur Fachkräftesicherung bei. In den drei Friseursalons arbeiten Menschen aus zwölf unterschiedlichen Nationen. Allein im Sommer kamen über das EU-Programm Mobipro noch einmal sieben Praktikanten in den Betrieb. „Wir leben Integration wirklich – aber nicht weil wir Gutmenschen sind, sondern weil es eine Notwendigkeit für uns ist“, sagt Geschäftsführer Stefan Hagens. Das Friseurhandwerk leide unter einem schlechten Image. „Wenn wir die Mitarbeiter nicht hätten, könnten wir unsere Läden dichtmachen.“ Der Preis wurde in diesem Jahr zum 49. Mal beim feierlichen Mahl des Handwerks vergeben.
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"...... noch ist allerdings unklar, wann der Verkauf startet."
Was ist daran nicht zu ...