
Freimut Kahrs hat sein Abitur gemacht, er hat Volkswirtschaftslehre und Logistik studiert, im Gespräch wählt er seine Worte mit Bedacht. Dass er seit fast einem Jahr arbeitet, ist trotzdem etwas Besonderes. Denn Kahrs hat eine Entwicklungsstörung.
Wer den 47-Jährigen sieht, der erkennt nicht, dass er zu einer Gruppe gehört, die es schwer hat auf dem Arbeitsmarkt. Kahrs hat das Asperger-Syndrom, eine Variante des Autismus. Was für die meisten anderen Menschen selbstverständlich ist, ist für ihn eine Herausforderung: arbeiten in Großraumbüros mit verschiedenen Hintergrundgeräuschen, Besprechungen mit vielen Kollegen, spontane Planänderungen. „Auch Smalltalk fällt mir schwer“, sagt Kahrs. In der Schule habe er immer alleine Pause gemacht. Damals wusste noch niemand, dass Kahrs Autist ist. Die Diagnose bekam er erst 2016, rund drei Jahrzehnte später. Bis dahin sei er der „komische Kauz“ gewesen, sagt Kahrs. Der, der irgendwie anders war als die anderen.
So oder so ähnlich geht es zahlreichen Menschen in Deutschland. Wie viele eine Autismus-Spektrum-Störung haben, ist nicht ganz klar. Schätzungen gehen von einem Prozent der Bevölkerung aus.
Als Kahrs 2016 den Befund bekam, sei das ein Schock für ihn gewesen. Plötzlich sei da dieses Stigma gewesen. „Und ich wusste: Das ist nichts, was man mit einer Therapie wieder wegbekommt.“ Dabei bedeutet die Störung im Fall von Kahrs nicht, dass er nicht selbstständig leben kann. Nach seinem Studium in München und Dortmund arbeitete er lange Zeit als Korrektor – bis die Stelle gestrichen wurde. Danach habe er immer mal wieder Bewerbungsgespräche gehabt. Eine Situation, die ihn stresste. Auch bei einigen Stellen – teils von der Arbeitsagentur vermittelt – sei ihm klar gewesen, dass die nichts für ihn seien. „Mit dem Kundenkontakt habe ich Probleme“, erzählt er. Oft falle es ihm schwer, im Dialog mit anderen Zwischentöne zu erkennen.
Nachdem 2016 klar war, warum das so ist, wandte sich Kahrs erneut an die Agentur für Arbeit – und die vermittelt ihn an den Integrationsfachdienst Bremen (IFD). Der hilft Menschen mit unterschiedlichen Einschränkungen, einen Arbeitsplatz zu finden, der ihren Fähigkeiten entspricht. Ist der gefunden, starten die Programmteilnehmer mit einem Praktikum – das im besten Fall in eine richtige Anstellung mündet. Unterstützung bieten dabei Jobcoaches.
Auch Kahrs hat so seine aktuelle Stelle gefunden. Anfang Januar startete er bei BVL Digital, einer Firma, die zur Bundesvereinigung Logistik gehört und dessen Mitglieder über digitale Angebote informiert, Podcasts und Webinare anbietet. Das Acht-Personen-Unternehmen ist noch recht jung und hat sich im Coworking-Space Weserwork in der Überseestadt eingemietet. Der ist selbst ein Inklusionsbetrieb und beschäftigt sowohl Menschen mit als auch ohne Behinderung. Betrieben wird Weserwork vom IFD. So kam auch der Kontakt zu BVL Digital zustande. An seinem ersten Tag in der neuen Firma erinnert sich Kahrs noch genau. Die Nächte davor habe er schlecht geschlafen – da er nicht genau wusste, was auf ihn zukommt. „Menschen sind häufig von Ängsten getrieben. Viele davon sind unnötig“, sagt Kahrs heute. Trotzdem sei er froh gewesen, dass eine Betreuerin vom IFD dabei war, um ihn an den ersten Tagen zu begleiten.
Schon früh habe er gemerkt, dass ihm die Arbeit Spaß mache und liege, sagt Kahrs. Er schreibt Texte über neue Technologien, die in der Logistik zum Einsatz kommen können, oder wertet Daten aus. Struktur, System, klares Vorgehen – das liege ihm, sagt Kahrs. Auch Sprachen zu lernen, fällt ihm leichter als anderen – weil die Systeme mit klaren Regeln sind, die sich erlernen und anwenden lassen. Neben Deutsch spricht er auch Englisch, hat Chinesisch und Japanisch gelernt.
Christian Grotemeier, Chef von BVL Digital, ist mit Kahrs und dessen Arbeit zufrieden. Seit Anfang Oktober ist der 47-Jährige nun ein fester Teil des Teams mit einer regulären Teilzeitstelle. Natürlich habe er sich anfangs gefragt, wie die Zusammenarbeit sein wird, ob es Probleme geben könnte. „Mein Team ist aber sehr offen und ich war sicher, dass wir das schaffen. Letztlich haben wir Herrn Kahrs nicht wegen seiner Behinderung eingestellt, sondern wegen seiner Fähigkeiten“, sagt Grotemeier. Denn einen besseren Kandidaten für die Stelle hätte er sich nicht wünschen können.
Nicht über- oder unterfordern
Kahrs selbst sagt über seine Arbeit, dass sie Abwechslung biete und er intellektuell ausgelastet sei. „Das ist auch immer unser Ziel: Wir wollen die Menschen nicht überfordern, aber auch nicht unterfordern“, sagt Sönke Callsen vom IFD. Er betreut den 47-Jährigen aktuell im Auftrag des Integrationsamtes Bremen, telefoniert oder trifft sich regelmäßig mit ihm, um über die Arbeit und Probleme zu sprechen.
Ein wichtiges Thema dabei: Stress. Kahrs ist leichter gestresst als andere Menschen. Von neuen Situationen etwa, von Ablenkung. Er weiß das alles, reflektiert regelmäßig, bewertet sein Stresslevel. Grün, gelb, rot – wie bei einer Ampel. Wird es ihm zu viel, nimmt er eine Auszeit. Im Büro hat er einen Rückzugsraum, er kann sich Zeit nehmen, um Situationen zu verarbeiten. „Auch meine Kollegen sind rücksichtsvoll und fragen nach meinem Wohlbefinden“, sagt Kahrs. Wahrscheinlich etwas mehr als bei Kollegen ohne Autismus – das nimmt der 47-Jährige an.
„Herr Kahrs hat eine besondere Rolle, und die darf er auch haben“, sagt Callsen. Seine Beschäftigung bei BVL Digital wird zudem über ein Programm der Arbeitsagentur finanziell gefördert. Es soll dafür sorgen, dass mehr Menschen mit Behinderung in Arbeit kommen. Dass jemand wie Kahrs ein Studium und Fachkenntnisse mitbringt, ist laut Callsen aber eher die Ausnahme. „Es gibt viele, für die eine Ausbildung zu viel wäre, aber die zu leistungsfähig sind, um abgeschrieben zu werden“, sagt er. Auch diesen Menschen könne der IFD zu Stellen helfen, etwa in der Lagerei oder der Logistik.
Freimut Kahrs ist froh über seine Arbeit bei BVL Digital. Mit Blick auf die nächsten Jahre sagt er: „Es spricht nichts dagegen, dass ich hier weiterarbeite.“ Dort hat er einen Chef und Kollegen gefunden, die ihn so akzeptieren, wie er ist. Die vor allem auf seine Stärken schauen und nicht auf seine Schwächen.
Die Autismus-Spektrum-Störung
Autismus beschreibt eine angeborene und nicht heilbare Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitungsstörung des Gehirns. Sie tritt in verschiedenen Ausprägungen und Schweregraden auf. Das Asperger-Syndrom gilt als eher milde Variante innerhalb des Autismusspektrums. Betroffenen fällt es schwerer als anderen Menschen, nichtsprachliche Signale zu deuten oder selbst zu vermitteln. Die sogenannten Inselbegabungen, wie sie häufig im Fokus von Filmen und Serien stehen und bei der in kleinen Teilbereichen wie etwa der Musik oder der Mathematik außergewöhnliche Leistungen erbracht werden, kommen dabei nur gelegentlich vor.
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