Welche Entwicklungsperspektiven hat der Einzelhandel in Bremen abseits der Innenstadt? Ein überarbeitetes Zentren- und Nahversorgungskonzept (ZNK) für das Stadtgebiet soll hierzu Auskunft geben. 2009 hatte die Stadtbürgerschaft erstmals ein solches Papier beschlossen, doch zwischenzeitlich hat sich viel getan. In der Geschäftswelt gibt es neue inhaltliche Trends, Konzentrationserscheinungen und veränderte Vertriebskonzepte, außerdem nehmen Online-Anbieter dem klassischen stationären Einzelhandel immer mehr Marktanteile ab – in einigen Angebotssegmenten jedenfalls.
Auf diese Entwicklungen galt es zu reagieren, und deshalb hat die Baubehörde gemeinsam mit dem Dortmunder Stadtplanungsbüro Stadt+Handel eine Neuauflage des ZNK auf den Weg gebracht, die voraussichtlich diesen Monat von der Stadtbürgerschaft beschlossen werden wird. Das Dokument stellt nicht etwa eine unverbindliche Empfehlung dar. Es wird Bestandteil des rechtlichen Rahmens für die Genehmigung von Einzelhandelsprojekten.
Wenn sich ein Investor in der Baubehörde nach Möglichkeiten für ein Vorhaben in einer bestimmten Örtlichkeit erkundigt, werden die Sachbearbeiter das neue ZNK zurate ziehen und anhand der räumlichen Abgrenzungen und Sortimentslisten entscheiden, ob das Geschäft an der gewünschten Stelle eröffnet werden kann. „Wir würden es negativ bescheiden, wenn der Standort nicht entsprechend ausgewiesen ist“, sagt Jan Dierk Stolle, der für die Bausenatorin an dem Papier mitgearbeitet hat.
Das Zentren- und Nahversorgungskonzept stuft die vorhandenen Geschäftslagen in vier Kategorien ein. Neben der Innenstadt und den beiden besonderen Stadtteilzentren Vegesack und Viertel listet es 13 „einfache“ Stadtteilzentren und 18 Nahversorgungsbereiche auf. Das Nahversorgungszentrum stellt dabei die unterste, quartiersnahe Stufe des Einzelhandels dar. Für Fußgänger in höchstens zehn Minuten erreichbar, deckt es die Grundbedürfnisse im Bereich Nahrungsmittel, Drogerieartikel und anderer Produkte des täglichen Bedarfs ab. In Stadtteilzentren ist das Angebot vielfältiger und auch quantitativ umfangreicher. Dort würden Kunden beispielsweise auch einen Augenoptiker, ein Elektrogeschäft oder einen Haushaltswarenhändler vorfinden, ergänzt um höherwertige Gastronomie und Dienstleister wie Banken. Das Einzugsgebiet des Stadtteilzentrums ist entsprechend größer.
In der Neuauflage des ZNK werden die Stärken und Schwächen der vorhandenen Stadtteilzentren klar angesprochen. So werden nach Einschätzung der Experten die Geschäftslagen in Vegesack, Huchting und dem Viertel ihrer Funktion gerecht – zumindest was die reine Ausdehnung der Ladenflächen angeht. Anders in der Neustadt, in Horn-Lehe, Osterholz, Woltmershausen und Hemelingen. Mit jeweils weniger als 7500 Quadratmetern Gesamtverkaufsfläche „sind sie hinsichtlich ihrer Versorgungsfunktion in einer Großstadt wie Bremen zunächst einmal kritisch zu bewerten“, meinen die Gutachter von Stadt+Handel. Dort sehen sie Nachholbedarf. Anderes Beispiel: Blumenthal. Dem dortigen Ortskern wird „fehlende urbane Qualität“ bescheinigt. Sein gegenwärtiges Angebot entspreche wegen der Konzentration auf das Fachmarktsegment „nicht der Funktion und Ausstattung eines Stadtteilzentrums“. Ziel müsse es sein, das historische Zentrum zu stärken und Sortimente wie Bekleidung, Hausrat/Einrichtungszubehör, medizinische Artikel und Unterhaltungselektronik anzusiedeln.
Auf der Ebene der Nahversorgungszentren werden im neuen ZNK drei bisherige Standorte aussortiert, weil sie sich als zu angebotsschwach und wenig entwicklungsfähig herausgestellt haben. So macht es aus Sicht der Gutachter keinen Sinn mehr, den Bereich der Gottfried-Menken-Straße (Neustadt) als Einzelhandelsstandort zu entwickeln. „Einkaufsatmosphäre ist nicht vorhanden“, so das Verdikt der Fachleute. Ähnliches attestieren sie dem Bereich Emmaplatz / H.-H.-Meier-Allee in Schwachhausen sowie der Mahndorfer Heerstraße. Dagegen haben sich zwei Bereiche in Vegesack und in Huchting positiv entwickelt. In Bremen-Nord konnten sich rund um den Kreuzungsbereich Georg-Gleistein-Straße / Hammersbecker Straße Einzelhandels- und Dienstleistungsangebote verdichten, ähnliche Ansätze gibt es in Huchting an der Kirchhuchtinger Landstraße. Diese neuen Kerne haben laut ZNK eine Zukunft als Nahversorgungszentren.
Aus Sicht von Jan Dierk Stolle besteht der konkrete Nutzen des ZNK auch darin, Lücken im Einzelhandelsangebot aufzuzeigen. „Wir wollen jetzt Gespräche mit größeren Discountern, aber auch kleineren Akteuren aufnehmen, um zu erfahren, wie ihre Expansionsplanung mit unseren Vorstellungen in Einklang gebracht werden kann“, kündigt Stolle an. Außerdem sei ein Fachdialog zur Zukunft der Nahversorgung geplant. Dabei gehe es auch um aufstrebende Vertriebsmodelle wie Lieferservices.
Die Handelskammer war bei der Aufstellung des Zentren- und Nahversorgungskonzeptes eng eingebunden. Ihr Einzelhandelsexperte Karsten Nowak hält es für gelungen. Es gebe Behörden, Politik, Investoren und Projektentwicklern Maßstäbe an die Hand, „auf deren Basis Vorhaben, Standorte und Entwicklungsperspektiven bereits grundsätzlich eingeschätzt werden können“, so Nowak. Dennoch werde man sich bei Einzelhandelsansiedlungen auch künftig mit jedem Einzelfall beschäftigen müssen. Dafür gebe es mit dem runderneuerten ZNK jetzt eine „verlässliche und transparente Grundlage“.
Der Teufel liegt im Detail
Um die Details des Zentren- und Nahversorgungskonzepts (ZNK) ist im vergangenen Jahr intensiv gerungen worden. Denn nicht alles, was sich von der hohen Warte der Stadtplaner als sinnvoll und wünschenswert darstellt, wird von den Ortspolitikern in den Beiräten geteilt.
In Vegesack beispielsweise gibt es seit vielen Jahren den Wunsch, auch die Lindenstraße als Einzelhandelsstandort aufzuwerten und dort einen Supermarkt zuzulassen. Genau so lange leistet die Baubehörde dagegen hinhaltenden Widerstand. Erst im November erneuerte der Beirat seine Forderung einstimmig gegenüber dem Bauressort.
In Borgfeld musste sich Stadtplaner Jan Dierk Stolle gar des Vorwurfs der Ignoranz erwehren. Strittig sind dort Pläne, auf dem jetzigen Baumarkt-Terrain ein kleines Einzelhandelszentrum mit Drogeriemarkt, einer Aldi-Filiale und einem kleineren Baumarkt samt Tiefgarage zu bauen.
Aus Sicht der Baubehörde gehört das Areal allerdings nicht zum Borgfelder Zentrum und kann deshalb auch kein Standort für die Einzelhandelsentwicklung sein. Das Thema wurde fürs Erste aus dem Zentren- und Nahversorgungskonzept ausgekoppelt. Eine sogenannte Vertiefungsstudie soll Aufschluss bringen, ob das Vorhaben mit dem ZNK in Einklang zu bringen ist. Im neuen Jahr wird sich die Borgfelder Beiratspolitik mit den Ergebnissen der Studie auseinandersetzen.