Jahrelang soll ein Pflegedienst in der Region Bremerhaven Leistungen abgerechnet haben, die nie erbracht wurden. Die Sprecherin der Prüfgruppe, die den Fall aufklärt, erklärt im Interview, wie sie gegen solche Betrüge vorgeht.
An welchem Fall von Abrechnungsbetrug arbeiten die Ermittler der GKV-Prüfgruppe zurzeit?
Ariane Weber: Es handelt sich um einen sehr umfangreichen Fall: Der Vorwurf richtet sich gegen einen großen Pflegedienst in der Region Bremerhaven, der nach den aktuellen Ermittlungen Leistungen abgerechnet hat, die nicht erbracht wurden. Dabei sind Leistungen, für die auch Unterschriften von Versicherten vorliegen.
Wie sind die Ermittler dem Betrug auf die Spur gekommen?
Wir haben den Tipp bekommen, dass bei einem bestimmten Versicherten keine sogenannte Verhinderungspflege stattgefunden haben kann. Eine solche Pflege kann man in Anspruch nehmen, wenn eine Pflegeperson – etwa ein Angehöriger – für eine gewisse Zeit ausfällt. Für einen Betrag von maximal 1612 Euro im Jahr kann man dann laut Gesetz eine Ersatzpflege bekommen, die übernimmt zum Beispiel ein ambulanter Pflegedienst. Der Antrag wird bei den Pflegekassen eingereicht.
Das heißt, die Versicherten haben das unterschrieben, obwohl die Pflege nicht stattgefunden hat?
Wir haben es hier auch mit Pflegebedürftigen zu tun, die in einem Vertrauensverhältnis und einem gewissen Abhängigkeitsverhältnis zu dem Pflegedienst stehen – und die auch nicht selten viele Leistungsnachweise unterzeichnen müssen. Da kommt es durchaus vor, dass ihnen zwischendurch ein Papier hingeschoben wird, das unterschrieben werden soll. Die Versicherten vertrauen dem Pflegedienst und unterschreiben zum Teil, ohne sich die eingetragenen Leistungen genau anzusehen. Um dem Missbrauch entgegen zu wirken, wäre hier mehr Aufmerksamkeit wünschenswert.
Wie hoch ist die Schadenssumme?
Der Betrug ging offenbar über mehrere Jahre. Wir rechnen insgesamt mit einem Schaden von mindestens 1,2 Millionen Euro. Es wurde Strafanzeige gestellt, die Ermittlungen laufen noch.
In wie vielen Fällen von Abrechnungsbetrug hat die Prüfgruppe seit ihrer Gründung vor 15 Jahren ermittelt?
Das sind 1202 Fälle, teilweise laufen die Ermittlungen noch. Oft ziehen sie sich über mehrere Jahre, bis aus ersten Hinweisen, ein konkreter Verdacht wird, Beweise gesammelt sind und eine Strafanzeige gestellt werden kann.
Wie viel Geld konnten sich die Krankenkassen von den Betrügern zurückholen?
Die Summe liegt bei 6,4 Millionen Euro. Dazu muss man erklären, dass es nicht immer gelingt, die komplette Schadenssumme zurückzuholen. Zum Beispiel, weil eine Insolvenz angemeldet wurde und es nichts mehr zu holen gibt.
Die Bremer Prüfgruppe gilt bundesweit als Vorreiter, wie setzt sie sich zusammen?
Das sind alle gesetzlichen Krankenkassen in Bremen sowie Vertreter der Staatsanwaltschaft, der Kriminalpolizei und des Landeskriminalamts, die alle sechs Wochen an den Treffen der Prüfgruppe teilnehmen. Dort gibt es spezielle Ermittlungsgruppen, die sich schwerpunktmäßig damit beschäftigen und über all die Jahre viel Erfahrung gesammelt haben.
Es handelt sich um Abrechnungsbetrug in allen Bereichen des Gesundheitswesens: bei Pflegediensten, Krankenhäusern, Arztpraxen, Apotheken, bei Hilfs- und Heilmittelerbringern wie Sanitätshäusern oder Physiotherapeuten. Auch andere Bundesländer haben inzwischen nach dem Vorbild des Bremer Modells ähnliche Teams eingerichtet, aber die Zusammenarbeit in Bremen ist nach wie vor in diesem Umfang einzigartig.
Wie kommt die Prüfgruppe Abrechnungsbetrügern auf die Spur?
Wenn wir einen Hinweis bekommen, schauen wir uns die Abrechnungen beispielsweise eines Pflegedienstes an, ob sich dieser Hinweis bestätigt und ob wir noch mehr Unregelmäßigkeiten finden. Der Fall wird in der Prüfgruppe vorgestellt.
Der große Vorteil ist, dass alle Krankenkassen Abrechnungen dieses Pflegedienstes unter die Lupe nehmen?
Dadurch ergibt sich oft erst ein rundes Bild. Wir hatten zum Beispiel bei einem Pflegedienst den Fall, dass bestimmte Pflegekräfte unmöglich zur selben Zeit an zwei unterschiedlichen Orten sein konnten – die auch noch viele Kilometer voneinander entfernt lagen. Diese Auffälligkeiten in einer großen Menge werden nur sichtbar, wenn man die Daten von einzelnen Kassen zusammenträgt. Betrug zieht sich aber durch alle Bereiche des Gesundheitswesens.
Zum Beispiel?
Im Moment haben wir einige Fälle, in denen sind von ganzen Familien die Versichertenkarten durchgezogen worden, tatsächlich wurde aber nur ein Familienmitglied untersucht. Es ist Betrug, wenn wir im Nachhinein feststellen, dass von anderen Familienmitgliedern Leistungen abgerechnet wurden, obwohl sie nicht erbracht worden sind. Das Einsammeln der Karten sollte Versicherten schon merkwürdig vorkommen, weil es dafür keinen Anlass gibt.
Mit welcher Strafe müssen Abrechnungsbetrüger rechnen?
Wenn wir einen Anfangsverdacht auf eine strafbare Handlung von nicht geringfügigem Umfang haben, sind wir verpflichtet, eine Strafanzeige zu stellen. Das geschieht sehr schnell, weil die Grenze sehr niedrig ist. Die Krankenkassen fordern den festgestellten finanziellen Schaden zurück. Das andere sind vertragsrechtliche Konsequenzen bis zum Zulassungsentzug, sodass keine Leistungen mehr mit der gesetzlichen Krankenversicherung abgerechnet werden können. Bei Ärzten kann die Approbation entzogen werden, das ist auch schon passiert.
Gibt es einen besonders dreisten Fall von Abrechnungsbetrug, mit dem Sie zu tun hatten?
Man verliert im Laufe der Jahre ein wenig die Illusion, aber einen Fall aus dem Jahr 2014 habe ich besonders in Erinnerung behalten. Wir wurden von einem Mann angerufen, der uns etwas zeigen wollte. Bei dem Treffen leerte er eine Tasche, darin war ein ganzer Berg Versichertenkarten. Der Mann war von einer psychotherapeutischen Praxis beauftragt worden, aus seinem Freundeskreis Versichertenkarten einzusammeln und Anträge für Psychotherapien unterschreiben zu lassen. Das ging über mehrere Jahre so.
Was ärgert Sie neben dem wirtschaftlichen Schaden für die Krankenkassen und die Versicherten am meisten an solchen Fällen von Abrechnungsbetrug?
Was mich sehr bewegt ist, dass beispielsweise im Pflegedienst-Bereich das Vertrauen gerade älterer Menschen mit einer gewissen Hilfebedürftigkeit einfach so ausgenutzt wird oder sie sogar unter Druck gesetzt werden, damit sie Unterschriften leisten. Da ist viel kriminelle Energie im Spiel.
Wohin können sich Versicherte, Mitarbeiter oder andere Hinweisgeber bei einem Verdacht auf Abrechnungsbetrug wenden?
Die GKV-Prüfgruppe hat eine Internetseite mit der Adresse www.gkv-pruefgruppe-bremen.de eingerichtet, außerdem kann man sich an seine Krankenkasse wenden. Hinweise von Mitarbeitern sind besonders wertvoll, weil sie die Innenansicht etwa aus einer Arztpraxis, einer Apotheke oder einem Pflegedienst haben.
Das Gespräch führte Sabine Doll.
Zur Person
Dr. Ariane Weber, Jahrgang 1969, ist seit dem 1. Januar 2014 Sprecherin einer Prüfgruppe der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) in Bremen, um Abrechnungsbetrug im Gesundheitswesen aufzuklären. Die Juristin war mehrere Jahre als Rechtsanwältin und bei einer anderen Krankenkasse tätig, bevor sie die Leitung der Fehlverhaltensbekämpfung bei der AOK Bremen/Bremerhaven übernahm.