Walle. Alle Kinder, die das Lesen und Schreiben lernen, machen dabei Fehler. Manchen von ihnen fällt es aber besonders schwer, einzelne Laute auseinander zu halten und die Buchstaben in die richtige Reihenfolge zu bringen. Früher sprach man häufig von Legasthenie, heute ist eher von Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten, kurz: LRS, die Rede. Gemeint ist damit konkret eine spezifische Schwäche im Erlernen von Lesen und Schreiben in der dafür vorgesehenen Zeit. So werden zum Beispiel Laute verwechselt und Buchstaben vertauscht oder weggelassen. Beim Lesen wiederum fällt es den Kindern schwer, Inhalt und Sinn eines Textes auf Anhieb zu verstehen.
Äußere Faktoren für solche Probleme können zum Beispiel sein, dass im Elternhaus wenig gelesen wird, Sprache dort kaum eine Rolle spielt, undeutlich gesprochen wird und womöglich auch noch rund um die Uhr der Fernseher läuft. Es gibt aber auch körperliche Gründe, erklärt Jens Hagen, LRS-Beauftragter des Vereins Stadtteil-Schule. Denn wenn Kinder nicht gut hören oder sehen können, kann dies wiederum ihre Fähigkeiten beim Schreiben und Lesen beeinträchtigen. Und das hat unangenehme Folgen: Oft können betroffene Schüler sich nicht gut konzentrieren, verlieren die Lust am Lernen und schließlich das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Um ihnen zu helfen und ihr Selbstvertrauen Schritt für Schritt wieder zu stärken, haben die beiden Deutschlehrer Uli Lehnhof und Anke Apel vor 25 Jahren das LRS-Projekt beim Verein Stadtteil-Schule ins Leben gerufen.
Unterstützung aus der Behörde
„Der Verein war 1983 von arbeitslosen Lehrern gegründet worden, die wegen eines Einstellungsstopps keine Beschäftigung fanden“, erzählt Anke Apel. Uli Lehnhof ergänzt: „Der Bereich LRS war eine Lücke, und so haben wir ihn eben aufgebaut.“ Unterstützung aus der Bildungsbehörde bekamen die beiden dabei von Markus Matheja, der heute beim Regionalen Beratungs- und Unterstützungszentrum (Rebuz) Ost arbeitet. „Er war unser Mentor und hat Fortbildungen für uns organisiert“, erzählt Anke Apel. „Denn LRS gab es damals nicht und sollte es offiziell nicht geben. Es hieß einfach: Das Kind ist dumm.“ So mussten Apel, Lehnhof und ihre damalige Kollegin Ines Teschke zunächst bei Eltern und Lehrern viel Aufklärungsarbeit leisten, damit etwas passiere konnte. Außerdem boten sie in den Bezirken Süd, West und Nord spezielle Kurse für Kinder an, die von der LRS-Beratungsstelle an der Sprachheil-Schule an der Thomas-Mann-Straße in Schwachhausen dorthin vermittelt wurden. Die Teilnahme war frei; das Finanzressort finanzierte damals die Kurse. Heute wird das Förderprojekt von der Bildungsbehörde unterstützt; den Restbetrag in Höhe von 80 Euro pro Monat tragen jeweils die Eltern.
Weit mehr als 3000 Kinder sind im Laufe der vergangenen zweieinhalb Jahrzehnte durch das LRS-Projekt der Stadtteil-Schule gefördert worden. „Wir haben immer versucht, den Kindern Mut zu machen. Viele waren enttäuscht und verzweifelt“, erzählt Uli Lehnhof, der inzwischen ebenso wie Anke Apel in Rente ist. „Aber wir haben ihnen immer wieder gesagt: Du bist nicht doof, du schaffst das. Und das musst du auch, weil Lesen und Schreiben eine wichtige Kulturtechnik ist.“ „Gerade ab der fünften Klasse ist der Wissenserwerb stark mit Lesen verbunden“, erklärt dazu Jens Hagen, der sich nun gemeinsam mit Andrea Ziesemer um den LRS-Bereich kümmert.
Im Jahr 2002 wurde das Projekt inhaltlich erweitert; seitdem kümmert sich Ulrich Havemann mit mehreren Kolleginnen ausschließlich um Kinder mit einer Rechenschwäche (Dyskalkulie). Der Verein, dessen Zentrale voriges Jahr von der Elsflether Straße in Walle an die Schlachte umgezogen ist, hat weitere Räumlichkeiten in der Neustadt, in Walle, Hemelingen, der Vahr und Schwachhausen. Dorthin können Kinder von der zweiten bis zur zehnten Klasse einmal in der Woche für eine Stunde kommen.
Oft kommt der Kontakt über ein Rebuz zustande. Es wenden sich aber auch Familien direkt an den Verein Stadtteil-Schule, weil sie von anderen Eltern auf das Projekt aufmerksam gemacht worden sind. Bei einem Erstgespräch analysieren die eigens ausgebildeten Lehrer nach der „Hamburger Schreib-Probe“ (HSP), ob Kinder und Jugendliche Probleme haben und welches ihre Haupt-Schwierigkeiten sind. Auf dieser Grundlage wird ein spezielles Förderprogramm für das jeweilige Kind entwickelt. Und dann wird in kleinen Gruppen mit höchstens drei Kindern geübt. Wie lange es dauert, bis sich Erfolge zeigen, kann Jens Hagen zufolge nicht verallgemeinert werden. „Regelmäßigkeit ist ganz wichtig“, betont der Experte. „Das Ganze steht und fällt mit der Aktivität der Eltern und Kinder.“