Lothar Bührmann, der künstlerische Leiter der Villa Ichon, begrüßt die Besucher zur Vernissage der Ausstellung „Das Karma der Wände“ mit einem Zitat von Emile Zola: „Es kann niemand behaupten, etwas wirklich gesehen zu haben, solange er es nicht fotografiert hat.“ Das Herausnehmen eines Zitats schaffe Diskontinuität, die sich im Vieldeutigen einer Fotografie spiegelt – hier sehe er eine Parallele zu den Arbeiten von Ulrich Schwecke. Die Kulturwissenschaftlerin Petra Schumacher nimmt sich den Begriff des „Karma“ vor. Vor und zwischen den Reden spielt Dieter Weische auf der Shakuhachi, der japanischen Bambusflöte, dem Meditationsinstrument zen-buddhistischer Mönche. Ihr weicher, geräuschafter Klang erzeugt eine Stimmung, die die Wucht der Fotografien Ulrich Schweckes noch verstärkt.
In einem späteren Leben
Das Wort „Karma“ kommt aus dem Sanskrit und bedeutet „Wirken, Tat“. Nach dem Konzept des Karma zeitigt jede Handlung eine Wirkung, die sich allerdings nicht sofort, sondern möglicherweise erst in einem späteren Leben zeigt. Eine Fotografie zeigt naturgemäß etwas, das ist. Aber das, was ist, weist sowohl auf seine Ursachen als auch auf seine Zukunft hin. Ulrich Schwecke sagt: „Klimakatastrophe, Finanzkrise, Terrorismus, Krieg, Hunger ... die Themenliste dessen, was uns an Bedrohungen begegnet und bewegt, ist lang und wächst. Mich interessiert zunehmend, wie diese Themen ästhetisch reflektiert werden können.“
Der erste Raum der Ausstellung ist der inneren Sicherheit gewidmet. Das dominierende Schwarz-Weiß-Bild in diesem Raum zeigt ein Fenster eines leer stehenden Hauses in Oberneuland von innen. Der Blick nach außen ist durch eine Jalousie versperrt. Nach innen ist es mit einem Bogen-Halbstore mit Fransen verziert. Schwecke belichtet auf die Jalousie, die ein wenig Tageslicht fängt. Im Ergebnis ist der Raum fast schwarz. Unter der Fensterbank zeigt sich nur schemenhaft ein Heizkörper. Das Besondere an diesem verlassenen Haus ist, dass es mit Sicherheitstechnik vollgestopft ist. Jedes Fenster ist mit Einbruchsmeldern versehen. Ulrich Schwecke zeigt Wandzeitungen mit dem Grundriss des Hauses und markiert darin die Lage der einzelnen Sensoren und stellt Fotos dieser Geräte dazu. Dieser Raum erzählt also von Angst, die dazu führt, dass sich jemand nach außen mehrfach sichert und abschottet.
Der nächste Raum erzählt von Mauern. Von einer Klagemauer in Krakau und von der israelischen Sperrmauer gegen Palästina. Fotos der beiden Mauern sind an die gegenüberliegenden Wände gehängt. Die Klagemauer in Krakau erzählt eine furchtbare Geschichte. Sie besteht aus Steinen, die aus der Zerstörung jüdischer Grabmäler stammen. Die Nazis haben diese Steine benutzt, um die Wege zu den naheliegenden Konzentrationslagern zu pflastern. Nach dem Krieg wurde daraus eine Klagemauer errichtet.
Schwecke zeigt Nahaufnahmen dieser Mauer und schreibt dazu einen Satz an die Wand: „Wenn Du wissen willst, warum die Gegenwart so ist, schau in die Vergangenheit.“ Der israelische Schutzwall gegen Palästina ist acht Meter hoch und 760 Kilometer lang. Der Satz an der Wand lautet: „Wenn Du wissen willst, wie die Zukunft wird, schau die Gegenwart an.“ Karma ist das Erbe der Taten.
Eine Erschütterung im Bild
Im anschließenden Turmzimmer hängt nur ein Bild: der Schrei. Es zeigt ein Gesicht. Ulrich Schwecke hat die Kamera während der langen Belichtung bewegt und so eine Erschütterung ins Bild gesetzt. Weiter geht es ins Erdgeschoss. Der große Ausstellungsraum, das Kaminzimmer, zeigt Bilder mit dem Titel „Griechische Wut“. Diese Aufnahmen sind in Athen entstanden. Sie sind laut, grell und kraftvoll. Sie zeigen Grafitti, zeigen Plakate, die teilweise zerrissen und übermalt wurden. Sie zeigen wütende Parolen, die sich gegen die Politik der Gläubiger richten, gegen die EU und gegen Deutschland.
Im Nebenraum hängt wieder nur ein Bild. Es zeigt eine ähnliche Verzerrung wie „Der Schrei“ und es trägt den Titel „Ecce Homo“. Dieses wuchtige Zitat wird meist übersetzt mit „Siehe, ein Mensch“. Es stammt aus dem Johannesevangelium, wonach Pontius Pilatus dem Volk den mit der Dornenkrone versehenen Jesus von Nazareth mit diesen Worten präsentiert. Die jüdische Führung habe daraufhin die Kreuzigung Jesu gefordert.
Auch Friedrich Nietzsche benutzt das Zitat als Titel eines Buches. In „Ecce homo – Wie man wird, was man ist“ gibt er rückblickend Deutungen seiner philosophischen Schriften und präsentiert sich selbst und seine Erkenntnisse als schicksalhafte Ereignisse von weltbewegender Größe. Dabei stehen die Themen seines Spätwerks, besonders die Kritik am Christentum und die „Umwertung aller Werte“, im Vordergrund. Wie auch immer: Das Bild „Ecce homo“ ist ein gültiger Schlusspunkt von Ulrich Schweckes Inszenierung seiner Werkgruppe „Das Karma der Wände.“
Weitere Informationen
Die Ausstellung läuft noch bis zum 24. November in der Villa Ichon, Goetheplatz 4. Geöffnet ist Montag bis Sonnabend von 11 bis 13 Uhr und Montag bis Freitag von 16 bis 20 Uhr. Am
12. Oktober um 19.30 Uhr gibt es außerdem ein Gespräch zur Ausstellung „Das Karma der Wände“ mit Ulrich Schwecke und dem Psychoanalytiker Lorenz Böllinger.