Es lohnt sich, sich auf den Weg zu machen – das ist für Dieter Brand-Kruth die Kernbotschaft der Geschichte von den Bremer Stadtmusikanten. Der 56-Jährige ist für seine Dissertation so tief in das Märchen von den Brüdern Grimm eingetaucht, wie vor ihm wohl noch niemand. Für sein umfassendes Werk ist er im Herbst mit dem Lutz-Röhrich-Preis 2019 von der Märchenstiftung Walter Kahn im unterfränkischen Volkach ausgezeichnet worden.
Der höchste Preis, den man für eine wissenschaftliche Arbeit bekommen könne, freut er sich über das Urteil der Fachleute. Für Nichtwissenschaftlicher hat er die 336 Seiten Text vollständig überarbeitet und am 3. Juli als Buch mit dem Titel „Auf nach Bremen“ in der Stadtbibliothek veröffentlicht. 200 Jahre, nachdem die Grimms ihr Märchen erstmals herausgegeben haben.
Brand-Kruth war es, der zu diesem Jubiläum den Stadtmusikantensommer 2019 in Bremen auf den Weg gebracht hat. „Während der Dissertation kam mir die Idee“, erzählt er. „Drei Sachen wollte ich unbedingt machen: eine Ausstellung, ein Symposium und meine Dissertation als Buch umschreiben.“ Dafür hat er Institutionen angeschrieben, Kontakt zum Staatsarchiv, zur Touristikzentrale und zur Wirtschaftsförderung aufgenommen und ein Feuerwerk an Veranstaltungen ausgelöst.
Als ihm seine Mutter als Kind in Dörpen im Emsland vorgelesen habe, sei „Hans im Glück“ sein Lieblingsmärchen gewesen, erzählt Brand-Kruth. Dass ihn sein beruflicher Weg wieder zu den Märchen führen würde, war nicht abzusehen als er eine Ausbildung bei der Polizei begann. 1982 hatte er einen Verkehrsunfall, seitdem ist er querschnittgelähmt und auf den Rollstuhl angewiesen.
Nach langer Reha machte er 1990 im Alter von 27 Jahren sein Abitur nach, volontierte bei der Nordwest-Zeitung und arbeitete ein Jahr als Redakteur, bevor er 1993 bis 1999 in Bremen studierte. „Das wollte ich unbedingt.“ Deutsch, Biologie und Erziehungswissenschaften, der Weg führte ihn ans Gymnasium Horn, wo er bis 2014 als Lehrer unterrichtete.
Die Idee, eine Dissertation zu verfassen, sei schon im Studium entstanden, erzählt der Kulturwissenschaftler, das Interesse an Märchen sei immer da gewesen. In einem Auslandssemester in London sei es in einem Seminar darum gegangen, Märchen nach Freud oder „Rapunzel“ beispielsweise feministisch zu interpretieren. Eine Professorin in Bremen brachte ihn auf die Idee mit den Stadtmusikanten, an denen ihn die Sinnbilder des Märchens interessierten.
„Die Bremer Stadtmusikanten – eine soziokulturelle Studie“ lautete fortan sein Thema, alle seine Gedanken kreisten um das Märchen. „Wie im Elfenbeinturm“, sagt Brand-Kruth, der auf den Spuren des Märchens und der Grimms reiste, sich in die verschiedenen Auflagen vertiefte, Interpretationen und Ausgaben verglich „Ich wusste vorher, dass große Botschaften in den Stadtmusikanten stecken“, erklärt der Kulturwissenschaftler, bei seinen Recherchen habe er dann festgestellt, wie kunstvoll das Märchen sei.
„Es ist bis ins Detail logisch konstruiert“ und es hat „einen außerordentlich ausgeprägten Bezug zum Leben“. Brand-Kruth zeigt auf, warum es genau diese vier Tiere sein müssen – Esel, Hund, Katze, Hahn –, die ihre tierischen Eigenschaften in diese erste Gesindegeschichte der Brüder Grimm einbringen. Die Tiere als sozial Geächtete und Vertriebene, die Besitzer und Räuber als Ausbeuter seien Spiegelbilder. Und die Parole „Etwas Besseres als den Tod findest Du überall“ wolle dazu animieren, Mut und Hoffnung zu haben, sich auf den Weg zu machen und neue Lebensfreude zu finden.
Warum Bremen von den Grimm-Brüdern als Ort gewählt wurde, erläutert der Bremer, und auch, was es mit der Tierpyramide auf sich hat: Dadurch, dass sie sich zusammengetan haben, erleben die Tiere das, was der Märchenforscher als Strategien für das Alter bezeichnet: die Lage erkennen, eigene Ressourcen nutzen, Unabhängigkeit erhalten, Ziele setzen, Unterstützung erfahren, Autonomie erleben und was gewesen ist, hinter sich lassen. Die Botschaften des Märchens seien in viele Richtungen interpretiert worden, je nach gesellschaftlicher Entwicklung: In den 1970er-Jahren sei es um Emanzipation gegangen, in den 80ern um Tierquälerei und Umweltaspekte.
Für Brand-Kruth ist das Märchen noch längst nicht zu Ende, die Objekte, die er in den Ausstellungen in Bremen gezeigt hat, präsentiert er im August 2020 in Hanau, das offiziell den Titel Brüder-Grimm-Stadt führen darf. Eine Erstausgabe von 1819 und eine erste Illustration sind der ganze Stolz des Bremers, er stellt neben Schriften aber auch Plastiken, Modelle und profane Alltagsgegenstände aus.
Der Kulturwissenschaftler hat die Stadtmusikanten zudem für den Westermann Verlag in leichte Sprache übersetzt, ebenso wie drei weitere Märchen, und wird Vorträge halten. Für Interessierte bietet er in der Volkshochschule eine Bildungszeit vom 4. bis 8. Mai an. Thema: „200 Jahre 'Die Bremer Stadtmusikanten – ein Tiermärchen als Abbild des Lebens“.
Weitere Informationen
Das Buch „Auf nach Bremen – Das große Buch über die Bremer Stadtmusikanten“ enthält auf 300 Seiten auch zahlreiche historische und aktuelle Stadtmusikanten-Abbildungen. Zu bekommen auch im Kundenzentrum im Pressehaus, Martinistraße.
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