Wenn die Suche nach einem Ausbildungsplatz beginnt, gibt es zahlreiche Möglichkeiten, wohin die berufliche Reise gehen kann. Einige wählen einen Bereich, in dem sie bereits Erfahrungen haben – andere entscheiden sich für das Unbekannte.
Für letztere Option hat sich Neele Ströhemann entschieden. Vor zwei Jahren standen mehr als zehn Ausbildungsberufe auf ihrer Wunschliste. „Es sollte etwas Handwerkliches sein“, war für die junge Bremerin bereits im Vorfeld klar. Sie wollte nicht den ganzen Tag im Büro vor einem Computer sitzen und abends verspannt von der Arbeit kommen. Stattdessen suchte sie auch eine körperliche Herausforderung. Auf ihrer Liste waren unter anderem Tischlerin, Malerin und Zimmerfrau, weil sie in der Schule und auch privat mit diesen Arbeitsfeldern bereits Berührungspunkte hatte. Auch im
Metallbereich hatte sie bereits in der Schule erste Erfahrungen gesammelt. „Die meisten meiner Freunde haben sich für Ausbildungen in Bereichen entscheiden, die sie bereits kennen. Aber ich suche immer die Herausforderung und will etwas Neues lernen“, lautet Ströhemanns Einstellung. Und so hat sie sich für die Ausbildung zur Glaserin entschieden. „Mit Glas hatte ich kaum Erfahrung – und der Beruf klang interessant“, erläutert die 21-Jährige, die heute im zweiten Lehrjahr ist und ihre Entscheidung nicht bereut.
Ausgebildet wird die junge Frau im Hemelinger Unternehmen Glas Service Tanneberg in der Oppenheimerstraße 12 in dem Fachbereich Verglasung und Glasbau. Bei einem anderen Betrieb könnte sie auch im Bereich Fenster- und Glasfassadenbau ausgebildet werden, aber nicht jedes Unternehmen kann alle Fachrichtungen anbieten. Bei Tanneberg kann sie etwa
60 Prozent aller Tätigkeiten einer Glaserin praktisch erlernen. Die weiteren Fähigkeiten sowie grundlegende theoretische und praktische Anwendungen kommen über die Berufsschule sowie die überbetriebliche Ausbildung.
Schneiden, Bohren, Schleifen, Bilderrahmen bauen oder Aquarien herstellen: Die Möglichkeiten bei der Gestaltung mit Glas sind vielfältig. In dem Ausbildungsbetrieb werden unter anderem Glastrennwände und Duschkabinen hergestellt. „Viele Kunden investieren in die Verschönerung des eigenen Heims“, weiß Chef Sven Tanneberg. Die Inflation und andere Krisen haben dem Glasermeister zufolge derzeit noch keine Auswirkungen. Selbst die allgemeinen Energieprobleme wirken sich gegenwärtig kaum auf die Glasherstellung aus. „Wenn ein Glasofen läuft, kann man ihn nicht einfach abstellen oder herunterregulieren“, sagt Tanneberg. Glas fließt daher kontinuierlich und wird vorerst nicht knapp.
Beste Voraussetzungen also für eine krisenfeste Ausbildung. Trotzdem spielen die Themen Nachhaltigkeit, die Wiederverwendung von alten Fenstern und Türen sowie die Dämmung mit Dreifachverglasung eine zunehmende Rolle in der Branche.
Sicherheit an erster Stelle
Bevor Ströhemann das erste Glas schneiden durfte, musste sie sich zunächst mit der Arbeitssicherheit beschäftigen. „Glas ist zwar sehr schön, aber auch sehr gefährlich“, weiß die Auszubildende. Beim Ritzen und Brechen des Materials könne durchaus mal etwas schiefgehen. „Man muss ein Gefühl dafür entwickeln und sensibel sein, um zu merken, wann und wo das Glas bricht“, erläutert die 21-Jährige. Sie schätzt besonders an ihrer Ausbildung, dass sie am Ende sieht, was sie geleistet hat. Die Skizzen für ihre Vorhaben und Aufträge kann sie mit der Hand anfertigen – und muss nicht stundenlang vor dem Computer sitzen. Stattdessen kann sie oft draußen arbeiten und ist körperlich aktiv.
Tanneberg, der jüngst im Oktober mit seiner Firma von der
Glockenstraße in das Gewerbegebiet Bremer Kreuz umgezogen ist, bietet auf dem 3000 Quadratmeter großen Betriebsgelände ausreichend Platz und Möglichkeiten für eine solide Ausbildung. Sechs Mitarbeiter gehen dem Chef zur Hand, darunter zwei Azubis. Ströhemann kann ihrem Kollegen im ersten Lehrjahr bereits etwas beibringen. Und sich im Arbeitsalltag als Frau durchzusetzen, fällt der Auszubildenden leicht – zumal der Betrieb bereits eine Meisterin beschäftigt, die den Männern sagt, was zu tun ist. Manche Kunden legen sogar besonderen Wert auf die Meinung einer Frau, weil es in dem Beruf auch um Kreativität geht.
Ströhemann ist die erste weibliche Auszubildende, seitdem Tanneberg im Jahr 2003 mit der Ausbildung von jungen Fachkräften begonnen hat. Ob sie später den Meisterin-Titel anstrebt, sich auf einen Fachbereich spezialisiert oder ein Studium anschließt, weiß die junge Frau derzeit noch nicht. Bei Glas Service Tanneberg stehen die Chancen auf eine Übernahme sehr gut – Gesellen werden ohnehin ständig gesucht. Auch einen neuen Azubi würde Tanneberg, der auch Vorsitzender des Prüfungsausschusses ist, im kommenden Jahr gern wieder einstellen.
Bei der Ausbildungsplatzsuche erhielt Ströhemann auch Lockangebote, erinnert sich die 21-Jährige. Ein Unternehmen wollte ihr beispielsweise einen Führerschein bezahlen. Dafür hätte sie aber eine längere Zeit als Gesellin dort arbeiten müssen – oder in einem anderen Fall auf einen Teil ihres Gehalts verzichten müssen. „Es kommt auf das Kleingedruckte an“, warnt sie andere Bewerber, sich nicht zu schnell auf ein vermeintlich gut klingendes Angebot einzulassen. Tanneberg sieht das ebenfalls kritisch: „Vielleicht möchte man ja auch gar nicht mit dem Azubi länger zusammenarbeiten. Und dann hat man bereits finanzielle Vorleistungen geleistet“, so seine Bedenken.
Im Rahmen ihrer Ausbildung arbeitete Ströhemann auch eine Woche im früheren Konzentrationslager Sachsenhausen. Ihre Berufsschule bot dort ein Projekt an, bei dem sie insgesamt 13 Fenster und eine Tür in ehemaligen Häftlingsbaracken auswechselte.
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