Zwölf Polizisten in voller Montur platzen in einen Deutschkursus für Ausländer. Sie wollen eine junge Iranerin festnehmen. Doch weil die an diesem Tag nicht zum Unterricht gekommen ist, muss die Truppe unverrichteter Dinge wieder abziehen. Zurück bleibt eine fassungslose Sprachklasse. Ihre Lehrerin beschreibt die Situation später mit „Schockstarre“.
So viel steht fest: Glücklich war mit diesem Einsatz der Bremer Polizei im Dezember 2019 in der Faulenstraße 67 im Nachhinein niemand. Die Innenbehörde spricht von „Irritationen und Betroffenheit bei Beschäftigten und Gästen der Volkshochschule“. Deutlicher wird Anne Schöne: „Der Einsatz war ein Unding“, ärgert sich die Lehrerin des Sprachkurses. Schule müsse ein sicherer Lernort sein. In Klassen wie dieser säßen zum großen Teil traumatisierte Menschen mit schlimmen Fluchterfahrungen. Gerade deshalb sei eine entspannte Lernatmosphäre so wichtig. „Und dann kommen die da einfach so reingestürmt.“
„Keine guten Voraussetzungen für Lernen und Integration“
Ricarda Knabe, Leiterin des Fachbereichs „Deutsch als Fremdsprache“ an der VHS, legt nach. Der Vorfall habe zu großer Unruhe und Verunsicherung unter den Schülern geführt. Nicht nur in der betroffenen Gruppe selbst, die völlig eingeschüchtert gewesen sei. Das Aufgebot der Polizei hätten auch Teilnehmer anderer Kurse mitbekommen, die sich danach fragten, ob ihnen das auch passieren könne und ob die VHS wirklich ein sicherer Lernort sei. „Keine guten Voraussetzungen für Lernen und Integration.“
In der Sache ging es um ein Amtshilfeersuchen des Migrationsamtes Bremerhaven an die Bremer Polizei. Nach Angaben der Innenbehörde sollte ein Geschwisterpaar, das in Bremerhaven als „mutmaßlich untergetaucht“ galt, aus einem Deutschkurs der Volkshochschule Bremen vorläufig in Gewahrsam genommen werden – „zum Zweck der Abschiebung“.
Laut Anne Schöne ging es bei dem Einsatz lediglich um eine junge Iranerin, damals 19 oder 20 Jahre alt. Sie und ihr jüngerer Bruder seien über Italien nach Deutschland gekommen, zu ihren Eltern, die in Bremerhaven lebten und dort einen Aufenthaltsstatus hatten. Ihr Bruder sei zu diesem Zeitpunkt als Schüler offenbar zu jung gewesen, um ihn abschieben zu können. Die Schwester jedoch sollte zurück nach Italien, berichtet die Lehrerin. „Allein, als junge Frau, vor diesem familiären und kulturellen Hintergrund ...“
Wie die Polizei sie ausgerechnet in den Räumen der VHS aufspürte, ist für Anna Schöne kein Rätsel. Das Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge habe doch genau gewusst, wo und wann sie sich in welchem Unterrichtsraum aufhielt. „Schließlich hatte das BAMF ihr ja den Integrationskurs bewilligt.“ Warum die junge Frau an diesem Tag nicht zum Unterricht gekommen war, wisse sie nicht, sagt die Lehrerin. Sie beschreibt die Iranerin als zielstrebig, fleißig und klug. „Eine Kursteilnehmerin, wie wir sie uns wünschen.“
Proteste führten zum Erfolg
Natürlich habe die VHS gegen das Vorgehen der Polizei protestiert, erklärt Fachbereichsleiterin Knabe. Offenbar mit Erfolg. In der Nachbetrachtung sei festzustellen, dass ein Vollzug der Abschiebung aus einer Bildungseinrichtung „mit Blick auf die Außenwirkung und zu erwartende negative Folgen, nicht erfolgen sollte, wenn andere Möglichkeiten bestehen, die Maßnahme durchzusetzen“, heißt es hierzu seitens der Innenbehörde. Folge davon war ein Erlass, der seit Dezember 2020 in Kraft ist. Er regelt „das geplante polizeiliche Einschreiten bei Zurückschiebungen oder Abschiebungen aus sensiblen Bereichen“.
Die Anordnung gilt nicht allein für Bildungseinrichtungen, sondern auch für andere öffentliche Einrichtungen und Veranstaltungen sowie religiösen Stätten. Wobei die Innenbehörde zwischen „sensiblen“ und „besonders sensiblen“ Bereichen unterscheidet.
Als besonders sensibel gelten Kindertagesstätten, Schulen (einschließlich Erwachsenenbildungseinrichtungen), Gedenkstätten, medizinische Einrichtungen, Migrationsberatungsstellen sowie sakrale Räumlichkeiten wie Kirchen, Moscheen, Synagogen oder Tempel. Hier soll ein Einschreiten der Polizei, das allein zur Durchsetzung einer Abschiebung dient, grundsätzlich nicht mehr erfolgen. Ausnahmen sind unter besonderen Umständen allerdings möglich.
Als sensible Bereiche gelten darüber hinaus Behörden, Arztpraxen, Pflegeeinrichtungen, Einkaufszentren und Kulturstätten. Hier hat die zuständige Ausländerbehörde nach vorheriger Abstimmung mit dem Fachkommissariat für Migrationskriminalität darzulegen, ob eine Festnahme im Ausnahmefall auch in einem sensiblen Bereich vollzogen werden kann oder dies gänzlich ausgeschlossen ist.
Einsatzort muss zunächst geprüft werden
Im praktischen Alltag bedeutet dies, dass das Fachkommissariat für Migrationskriminalität oder der Verantwortliche des Einsatzes zunächst zu prüfen hat, ob es sich bei dem Einsatz-/Festnahmeort um einen sensiblen Bereich handelt. Ist dies der Fall, ist unter einsatztaktischen Gesichtspunkten zu entscheiden, ob ein Einschreiten ohne eine Gefährdung des Einsatzzwecks auch an einem anderen Ort möglich ist. Die Gründe für die Entscheidung sowie der Einsatzverlauf sind zu dokumentieren.
Die junge Iranerin, deren Fall zum Auslöser für diesen Erlass wurde, durfte nach Einschaltung eines Anwaltes letztlich in Bremerhaven bleiben. Bis das feststand, traute sie sich nicht mehr in die Volkshochschule und verpasste dadurch mehrere Unterrichtseinheiten. „Die Prüfung hat sie am Ende trotz all des Stresses trotzdem bestanden“, berichtet Anne Schöne. „Sogar mit dem drittbesten Ergebnis des Kurses.“
Große Zustimmung zur neuen Verordnung, aber auch deutliche Ablehnung
In Reihen von Bremens Innenpolitik stößt der Erlass, der sensible und sehr sensible Bereiche für Polizeieinsätze im Zusammenhang mit Abschiebungen definiert, auf große Zustimmung, aber auch auf deutliche Ablehnung. Mustafa Öztürk (Grüne) spricht von einem „sehr wichtigen Erlass“. Er gebe den Polizeibeamten Sicherheit, wie sie künftig mit diesem Thema umgehen sollen. Eine „gute Klarstellung“ findet auch Sofia Leonidakis (Die Linke). „Es gibt jetzt Bereiche, bei denen ganz klar ist: Von dort wird nicht abgeschoben.“
Auch Birgit Bergmann (FDP) begrüßt den Erlass, für sie eine Frage von Menschenwürde und Menschenrechten. Die Betroffenen seien oft in ihrer Heimat durch staatliche Organe traumatisiert worden. Wenn jetzt auch hier die Staatsmacht in den Unterricht einmarschiere, könne dies eine retraumatisierende Erfahrung sein. Zudem sei der Sekundäreffekt solcher Aktionen zu bedenken. Wenn sich herumspreche, dass man selbst in Orten wie Schulen gesucht und abgeschoben werden kann, könne dies dazu führen, dass diese Orte gemieden werden. „Das kann nicht unser Ziel sein.“
Marco Lübke (CDU) bezeichnet den Erlass zwar inhaltlich als richtig und gut, findet ihn aber trotzdem überflüssig. Man müsse nicht immer alles per Erlass regeln, bei diesem Thema könne man von der Polizei das nötige Fingerspitzengefühl erwarten und ihr das auch zutrauen. Auch Jan Timke (Bürger in Wut) bezweifelt die Notwendigkeit eines solchen Erlasses. In der Regel habe es bei solchen Einsätzen keine Probleme gegeben, sondern lediglich „diesen einen Grenzfall“. Er lehnt den Erlass aber auch aus grundsätzlichen Erwägungen ab, denn der schaffe nicht mehr Sicherheit, sondern einen rechtsfreien Raum. Letztlich müsse nun die Polizei vor Ort entscheiden, ob es künftig noch eine bessere Möglichkeit zur Festnahme geben könnte.