Ahmet Güler : Ja, die Stadt trägt die Vergangenheit in sich, das ist vielen Menschen nur nicht bewusst. Die Migration ist an allen Ecken tief in Bremen und seiner Geschichte verwurzelt.
Anke Osterloh : Sie zieht sich durch die Jahrhunderte. Der Aufstieg Bremens als Auswandererort in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war zusammen mit der Gründung von Bremerhaven ein Resultat der verbesserten Transportmöglichkeiten.
Wie muss man sich die typische Reise eines Emigranten ab Bremen vorstellen?Anke Osterloh : Vor dem Beginn des Eisenbahnanschlusses von Bremerhaven ist man in Bremen in ein kleines Weserschiff gestiegen und wurde in diesem die ganze Unterweser runter befördert. Diese Weserkähne fuhren bei jedem Wetter. In Bremerhaven musste man dann am Hafen ausharren – oft recht lang. Die Segelschiffe mussten Reparaturen, Beladung und passendes Wetter abwarten. Die Dampfschifffahrt sowie die Eisenbahn änderten dann aber alles.
Was hat der Wandel in diesem Geschäft bewirkt?Anke Osterloh : Die Dampfschifffahrt drittelte die Reisezeit zwischen Bremen und New York. Man hatte einen festen Termin für die Abfahrt. Die Einführung der Dampfmaschine war eine die Welt umwälzende Innovation und ermöglichte erstmals feste Fahrpläne. Die Reisen wurden bequemer und sicherer.
Die Emigration prägte die bremische Geschichte also entscheidend mit, aber seit wann immigrieren Menschen hierher?Anke Osterloh : Es gab zum Beispiel eine Jutefabrik in Walle im Jahr 1888. In dieser wurde Sackleinen produziert und die Bremer wollten da nicht arbeiten. So warb man Menschen aus ganz Europa an, zum Beispiel aus Galizien und dem heutigen Polen. Und sie kamen, um zu niedrigsten Löhnen zu arbeiteten. Sozusagen die ersten - vornehmlich Frauen - „Gastarbeiterinnen“.
In den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts brauchte Deutschland erneut Arbeitskräfte. Wie hat Ihre Familie das erlebt, Herr Güler?Ahmet Güler : Ja, mein Vater und viele andere sind damals zu einem bestimmten Zweck, mit der Absicht zeitlich begrenzt zu bleiben, nach Deutschland gekommen, um zu arbeiten. Die sogenannten Gastarbeiter sollten genau das sein: Gäste, die kommen, arbeiten und das Land dann wieder verlassen. Aber es kam anders, wie wir heute alle wissen. Aber damals, mein Vater kam 1968 nach Bremen, gab es nicht viel Kontakt zur einheimischen Bevölkerung. Man blieb unter sich.
Anke Osterloh : Das alles geschah ja auch im Kontext des Wirtschaftswunders - alles boomte.
Ahmet Güler : Ja, es war eine große Chance für alle, Deutschland und die Türkei haben eng zusammen gearbeitet. Dabei spielte schulische Bildung bei den Interessenten keine große Rolle. Es ging primär um körperliche Fitness und ein wenig praktische Berufserfahrung. Passend hierzu lernte auch fast keiner in der ersten Generation die Sprache. Niemand machte sich Gedanken, wie das in fünf Jahren sein wird. Der eine bekam Arbeitskräfte, der andere Devisen.
Wann sind Sie nach Deutschland gekommen und wie erging es Ihnen als einer der zweiten Generation?Ahmet Güler : Wir kamen 1973 nach. Es war nicht einfach. In der Schule verstand ich nichts, wir bekamen keinen Sprachunterricht. Es war mehr als Quälerei. Später wartete so auch nur die Sonderschule. Ich bin mit meiner Mutter und meinen beiden Geschwistern zusammen später in die Türkei zurückgegangen, um dort zur Schule zu gehen.
Anke Osterloh : ...die Kofferkinder, nirgendwo wirklich zu Hause...
Ahmet Güler : ...genau, einige Wochen hier und dann wieder zurück in die Türkei.
Ist Deutschland denn inzwischen eine Heimat?Ahmet Güler : Für meine Generation ja, wir hatten die Chance eine Entscheidung zu treffen. Aber erst die dritte Generation hat sich völlig entschieden hier zuhause zu sein. Meine Eltern sind hier bis heute nicht heimisch geworden. Sie leben auch große Teile des Jahres inzwischen wieder in der Türkei. Sie kommen nur aufgrund von zwingenden Gründen nach Deutschland.
Was wären ihre beiden Herzenswünsche für eine erfolgreiche Integration?Ahmet Güler : Die Ausstellung und Zusammenarbeit mit dem Focke-Museum ist ein solch wahrgewordener Wunsch. Hier lässt sich die Geschichte der Migranten, die im Zuge der Anwerbe-Abkommen nach Bremen kamen und die nicht einmal viele Migranten der 2. und 3. Generation kennen, allen Bremerinnen und Bremern näherbringen. Wir müssen Fehl- und Vorurteile abbauen und Gemeinsamkeiten betonen. Die Religion darf nicht alleinig die Identität eines Menschen in den Augen anderer bestimmen.
Anke Osterloh : Das sollte auch in den Schulen gefördert werden. Es muss Respekt gegenüber allen Kulturen herrschen. Hierfür sind Bildung und Lehrer, die dies vorantreiben, das „A und O“.
Ahmet Güler : Ja, allein die Sprache zu sprechen reicht nicht aus. Nur wenn man die gleiche Sprache spricht, versteht man sich nicht gleich. Es geht um gemeinsame Wünsche, Träume und den Drang gemeinsam die Zukunft zu gestalten.
Das Gespräch führte Gerald Weßel .
Anke Osterloh,
49 Jahre alt, ist von Beruf Historikern und lebt in Weyhe.
Ahmet Güler ,
56 Jahre alt, ist von Beruf Journalist und lebt in der Neustadt. Er kam 1973 nach Deutschland, nachdem sein Vater bereits seit 1968 hier als sogenannter Gastarbeiter tätig gewesen ist.
Weitere Informationen
Die nächste Führung mit Anke Osterloh und Ahmet Güler zum Thema findet am Sonntag, 10. Juni, um 11.30 Uhr im Focke Museum unter dem Titel „Aufbrechen und Ankommen in Bremen“ statt. Der Preis beläuft sich auf zwölf Euro, ermäßigt auf neun Euro. Anmeldung ist unter 04 21 69 96 00 50 möglich.