Ahmad Alzoubi hat seine Flucht aus Syrien nach Bremen mit seinem Smartphone auf Video festgehalten. In dem 40-minütigen Film wird jedoch auch vom guten Leben in Syrien erzählt.
Angst ist relativ. Ahmad Alzoubi weiß das. Angst bestimmte seinen Alltag. Sie wurde zu seinem ständigen Begleiter, als er 14 Jahre alt war. Vier Jahre lang wich sie nicht von seiner Seite. Die Angst um Familie und Freunde, um Pläne und Träume wurde zum Grundrauschen seines Lebens. „Jeden Tag siehst du die Luftwaffe, Blut und Tote, und nach ein, zwei Jahren wird das zu einem normalen Gefühl“, sagt Alzoubi.
Der Ausnahmezustand wurde zum Alltag. So gewöhnlich, dass beinahe nur noch der Ausbruch Angst machte. „Zu Beginn der Flucht habe ich gemerkt: Das ist jetzt das erste Mal in meinem Leben, wo ich wirklich so richtige Angst spüre.“ Während Alzoubi das in der Medienwerkstatt des Schlachthofs erzählt, rauscht auf dem Bildschirm hinter ihm ein Laster durch die Wüste.
Auf der Ladefläche kauert eine Gruppe von Menschen, zusammenpfercht und regungslos. Überzogen vom Wüstensand, der sich wie eine zweite Haut über ihre ausdrucklosen Gesichter gelegt hat. Bilder eines Aufbruchs ins Ungewisse.
Verhuschte Videos
So beginnt der zweite Abschnitt von Ahmad Alzoubis Film. Er dokumentiert seine Flucht. Raus aus Syrien. Weg von der ständigen Angst, die ihn umgeben hat, begleitet von einer noch größeren Angst. Raus aus Daraa, seiner Heimat. Jener Stadt, die im Frühling 2011 zur Keimzelle des Aufstands gegen das Assad-Regime wird.

Flucht auf den eigenen Weingarten: Monate campierte Alzoubi zwischen Trauben.
Als die Unruhen im Südwesten Syriens schwelen, hält der damals 14-Jährige das fest – in kurzen, verhuschten Videos, aufgenommen mit seinem Smartphone. Als die ersten Jets über Daraa kreisen, filmt Alzoubi das. Als sich die ersten Panzer durch die engen Gassen der Altstadt zwängen, filmt er das.
Aus Reflex, ganz intuitiv, wie er sagt. Videoschnipsel und flüchtige Fotos werden zum Spiegel seines Erlebten. Der Handyspeicher wird fortan zu seiner Chronik des Kriegs. Ein digitales Tagebuch, „einfach nur zur Erinnerung“, sagt Alzoubi.
Das Leben der Familie gefilmt
Er hält fest, wie seine Familie das Haus verlassen muss. Wie sie für Monate auf den Feldern des eigenen Weingartens vor den Toren der Stadt zwischen Trauben campiert. Wie sie zurückkehrt und da, wo einst ihr Haus stand, nur noch eine Ruine vorfindet.
Wie während der Mathestunde, nur unweit des Schulgeländes, Bomben explodieren. Wie die Familie trotzdem bleibt, sich arrangiert, irgendwie einen Neuanfang versucht. Und wie sie sich im September 2015 dennoch eingestehen muss: Hier geht es nicht mehr weiter.
Alzoubi will nach Damaskus, Elektroingenieur werden. Abitur und Zulassung der Universität hat er. Dann meldet sich die Regierung. Er soll nach Damaskus, das schon, aber nicht zur Uni. Alzoubi muss zum Militär von Assad. Jenen Truppen, die das Haus seiner Familie zerstört hatten. „Ich war bis dahin noch nie im Ausland, wollte nicht gehen und hatte noch nie vor etwas so große Angst wie vor der Flucht“, erzählt Alzoubi. „Aber ich hatte keine Wahl mehr.“
Es fließen tausende Dollar an Schmuggler, die letzten Mittel der ehemals gut situierten Familie. Dann folgen sechs Tage Fahrt durch die Wüste, der Hitze auf der Ladefläche des Lastwagens schutzlos ausgeliefert. Unterbrochen von einer Haft in Al-Rakka, wo die Daesch-Justiz die Motive der Gruppe prüft. Alzoubi, sein Zwillingsbruder und seine Eltern dürfen nach zehn Tagen der quälenden Ungewissheit weiter. Andere nicht.
Auf einem Bergpass im Grenzgebiet zur Türkei verliert sich die Familie. Erst nach Tagen finden sie wieder zusammen. Von Izmir geht es im überfüllten Schlauchboot auf die griechische Insel Samos. Sechs Stunden soll die Fahrt über das Mittelmeer dauern. Es werden mehr, weil mitten in der Nacht der Motor des Bootes ausfällt.
Auch Erzählungen vom guten Leben
Auf Griechenland folgen die Balkan-Route und schlaflose Nächte auf kaltem Asphalt an der serbischen Grenze. Stundenlange Märsche und tagelange Zugfahrten später stehen eine Unterkunft in der Bremer Vahr und das Ende der Flucht.
Natürlich handelt Alzoubis Film auch davon. Dabei erklärt er viel mehr. Die 40 Minuten erzählen auch vom guten Leben in Syrien. Dem Syrien, bevor es in die Tagesthemen kam. Sie zeigen, wie zäh die Menschen in Daraa sind.

Tag drei: Alzoubis Gruppe kurz bevor Daesch-Kämpfer sie festhalten werden.
Wie kreativ sie gegen die Unmöglichkeit angehen, während des Kriegs ein normales Leben zu führen. Wie sie bei über 40 Grad im Schatten Wasser kühlen, wenn seit Monaten kein Kühlschrank mehr hilft, weil mal wieder der Strom fehlt. Wie sie das Wlan im wenige Kilometer entfernten Jordanien anzapfen, um vernetzt zu bleiben.
Überhaupt kreist der Film immer wieder um die Frage, was Migration im digitalen Zeitalter bedeutet. Sich mit der GPS-App, einem globalen Navigationssatellitensystem, in der Nacht übers Mittelmeer manövrieren. Die verlorenen Eltern via Telefongespräch über einen fremden Bergpass lotsen. Um die Gefahr wissen, auf offener See zu filmen, und es dennoch tun, um die Erinnerung im zitterigen Bewegtbild zu konservieren. All das ist Teil des Films. Weil es Teil der Geschichte von Ahmad Alzoubi ist.
Uraufführung im Magazinkeller
Der 19-Jährige war sich dessen nicht immer bewusst. Acht Monate hat es gedauert, bis aus seinen Erinnerungen und der Datenbank seines Telefons ein Film werden konnte. Geholfen hat ihm dabei die Medienwerkstatt des Schlachthofs. „Ahmad hat sich im Lauf der Arbeit auch selbst über seine Geschichte vergewissert“, sagt Jens Werner von der Medienwerkstatt.
Nach zwei Monaten sei die Dokumentation eine völlig andere gewesen. „Er hatte den Text so gesprochen, als ob er gar nichts damit zu tun hätte. Also ob er über einen Fremden berichten würde.“ Mit der Zeit wich Alzoubis Distanz zu dem, was er da schnitt und einsprach. „Das war ein Prozess“, sagt Jens Werner. „Er musste annehmen, dass das seine Geschichte ist.“

Tag eins: Ahmad Alzoubi zu Beginn seiner Flucht quer durch die Wüste Syriens. Zu diesem Zeitpunkt liegt noch knapp ein Monat vor ihm.
Inzwischen hat er diese, seine Geschichte, gebannt auf 40 Minuten, im ausverkauften Magazinkeller aufgeführt. In dieser Woche stellt er den Film einer Bremerhavener Schulklasse vor. Im Februar soll er im City 46 laufen. Wenn es nach Ahmad Alzoubi geht, ist das erst der Anfang. Er will den Film auf Englisch übersetzen setzen lassen, ihn möglichst vielen Menschen zeigen.
Alzoubi ist sich sicher, dass sein Film besonders ist. Dass er etwas hat, das die Nachrichten im Fernsehen nicht haben. „Er ist viel direkter“, sagt Alzoubi. „Meine Gefühle, Ängste und Traurigkeit: Man kann das stärker nachfühlen, man sieht das mit meinen Augen.“