Bremen. Die bereits vorhandenen Engpässe bei der psychotherapeutischen Hilfe für Kinder und Jugendliche haben sich durch die Corona-Pandemie verschärft. Das bestätigen sowohl der Bremer Landesverband der Vereinigung Analytischer Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten (VAKJP), wie auch die stationäre Kinder- und Jugendpsychiatrie am Klinikum Bremen-Ost.
Nadine Jensen von der Klinikpflegeleitung geht aktuell von drei bis vier Monaten Wartezeit für einen Therapieplatz im Krankenhaus aus, deutlich länger als vor der Corona-Pandemie. Antonella Dal Cero, die als Vorsitzende des Landesverbands der Jugend-Psychotherapeuten für rund 40 niedergelassene Therapeuten spricht, berichtet von momentan 15 bis 20 Anfragen pro Woche an die zentrale Vermittlung des Verbandes. „Doch die Kollegen sind durchgehend gut ausgelastet, sodass lange Wartezeiten auf freie Therapieplätze entstehen.“ Bis zu einem halben Jahr und länger könne es dauern, bis Kinder und Jugendliche eine umfassende Therapie erhalten.
Dass der steigende Bedarf eine Folge von Belastungen durch Corona ist, bestätigen auch Kinderärzte. „Es gibt jetzt deutlich mehr Ängste, Trauer und Depressionen. Beeindruckend ist, dass gerade Jugendliche manchmal selbst um Hilfe bitten“, sagt etwa Christian Wagner, Kinderarzt in Vegesack.
Mangelnde soziale Kontakte, exzessiver Medienkonsum, aber auch Bewegungsmangel seien mögliche Ursachen für die Not der jungen Menschen, weiß der Mediziner. Wagner beklagt, dass es schon jetzt zu wenig Kinder- und Jugendpsychiater gebe. „Die wurden schon immer dringend benötigt. Und nun steigt der Bedarf noch weiter.“
Dabei sind nach Einschätzung von Antonella Dal Cero zahlreiche Krankheitsbilder jetzt noch gar nicht sichtbar. „Soziale Phobien und Ängste oder ein auffälliges Sozialverhalten können sich in der aktuellen Situation gar nicht zeigen, weil zum Beispiel der Schulbesuch ohnehin eingeschränkt ist und nur Distanzunterricht stattfindet.“
Das bestätigt auch Nadine Jensen vom Klinikum Bremen-Ost. „Soziales Rückzugsverhalten bis hin zur nachhaltigen Schulverweigerung wird durch die Umstände mit Corona ja geradezu gefördert“, sagt die Fachkrankenschwester für Psychiatrie. So rechnen die beiden Expertinnen nach einem Ende der akuten pandemischen Lage mit weiter anhaltendem Bedarf.
Aktuell auffällig sind laut Antonella Dal Cero diverse Zwangsstörungen, aber auch kindliche Depressionen. Jensen berichtet, man habe im stationären Bereich vor allem mit psychisch bedingten Essstörungen zu tun. Vielfach erlebe man dabei derzeit Rückfälle. „Es gibt eine nennenswerte Zahl von Patienten, deren Leiden weitgehend unter Kontrolle waren, die aber in der Corona-Situation erneut stark betroffen sind“, sagt Nadine Jensen.
Offiziell gilt Bremen als gut ausgestattet mit Psychotherapeuten. Laut Kassenärztlicher Vereinigung (KVHB) liegt die Versorgungsquote insgesamt über alle Fachrichtungen hinweg bei 173,5 Prozent. Gemessen wird dies an einem amtlich definierten Bedarf von einem Therapeuten pro 3190 Einwohner. Die Zahl ist vor über 20 Jahren festgelegt worden. „Seitdem hat sich aber vieles verändert, unter anderem nehmen Betroffene heute eher und häufiger therapeutische Hilfe in Anspruch“, kommentiert Amelie Thobaben, Präsidentin der Psychotherapeutenkammer Bremen. Eine Auswertung von Patientendaten der Barmer in Niedersachsen und Bremen ergab zwischen 2009 und 2019 fast eine Verdopplung der Zahl junger Patienten für Psychotherapien.
Die Terminservicestelle der KVHB konnte im vorigen Jahr insgesamt 2635 Menschen vermitteln. Sprecher Christoph Fox hebt zugleich hervor, dass die Kinder- und Jugendpsychotherapeuten der Servicestelle 2020 insgesamt 300 mehr freie Termine gemeldet haben, als am Ende in Anspruch genommen wurden.
Das ist laut Dal Cero aber kein Widerspruch zum Befund knapper Therapieplätze. „Die Terminservicestelle vermittelt Sprechstunden und Beratungsgespräche, in denen die Probleme der Patienten erstmals erörtert werden können“, sagt die Psychotherapeutin. Erst im Verlauf ergebe sich der weitere Therapie-Bedarf. Betroffene in akuten Notsituationen erhielten zudem immer zeitnah Hilfe, auch bei niedergelassenen Kollegen. „Dafür halten wir diese Termine ja vor.“
Das bestätigt auch Nadine Jensen. Neben den regulären 45 Therapieplätzen der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Klinikum Bremen-Ost gebe es selbstverständlich die Akutambulanz für alle Fälle, bei denen unmittelbare Eigen- oder Fremdgefährdung vorliege. Die Wartezeiten bei den regulären Therapieplätzen erklärt die Klinikpflegeleitung nicht allein mit dem gestiegenen Bedarf durch Corona. Die Pandemie wirke sich auch auf die Versorgungsmöglichkeiten der Klinik aus. „Erkrankungen und Quarantänezeiten beim Personal schränken immer wieder unsere Kapazitäten ein.“
Wie man einen Therapeuten findet
Eine Arbeitsgemeinschaft von sechs Psychotherapeutenkammern bietet im Internet unter psych-info.de (ohne www) eine spezialisierte Suchmöglichkeiten nach Psychotherapeuten. Rund 10.000 Therapeuten aus Bremen, Niedersachsen, Hamburg, Schleswig-Holstein, Berlin und dem Saarland sind dort verzeichnet. Die Suchmaschine erlaubt eine Filterung der Ergebnisse nach Ort, Kostenträger, oder auch Therapieverfahren. Eingetragen sind ausschließlich Mitglieder der Kammern, die als sogenannte psychologische Psychotherapeuten keine Ärzte sind. Entsprechende Fachärzte, die ebenfalls als Psychotherapeuten tätig sind, können über die Arztsuche der Kassenärztlichen Vereinigungen gefunden werden. Für Bremen ist das die Internet-Adresse www.kvhb.de.