Das Haus in der Neustadt fällt im Vorbeigehen nicht besonders auf. Es ist eines von vielen, die gemeinsam eine Häuserzeile auf der Rückseite der Hochschule bilden. Nicht besonders hübsch, nicht besonders hässlich. Doch sein Innenleben ist etwas Besonderes. Besonders international, könnte man sagen, und einmalig. Schließlich leben darin neun Mädchen und Jungen aus den verschiedensten Teilen der Welt. Gemeinsam bilden sie Bremens erste gemischtgeschlechtliche Wohneinrichtung für unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge. Sie trägt den wenig exotisch klingenden Namen: Interkulturelle Jugendwohngruppe. Träger ist das SOS Kinderdorf.
„Menschen werden in unserer Heimat täglich ermordet. Das ist dort Normalität“, sagt Fahad. Er ist 16 Jahre alt und trat Anfang Mai zusammen mit seiner 17-jährigen Schwester Faiza die Flucht aus Belutschistan an. Einer Region, die sich über Teile Irans, Afghanistans und Pakistans erstreckt und in der seit Jahren ein blutiger Kampf um Rohstoffe und Unabhängigkeit tobt. Der Vater von Faiza und Fahad wollte nicht dabei zusehen müssen, wie seine beiden Kinder in diesem Konflikt ihr Leben lassen, und finanzierte ihre Flucht. Faiza: „Manchmal hatten wir kein Essen und Trinken. Es war sehr gefährlich. Allein, ohne meinen Bruder, hätte ich das Ganze sicherlich nicht überlebt.“ Nach rund einem Monat entbehrungsvoller Fußmärsche, an deren Ende ein Flug nach Deutschland stand, erreichte das Geschwisterpaar im Juni Bremen. Besonders schwierig ist für die beiden, dass sie nicht mit ihren Eltern kommunizieren können. Faiza: „Wir vermissen unser Zuhause sehr.“ In ihrer Heimat seien alle Telekommunikationseinrichtungen zerstört worden. Fahad: „Es gibt keine Möglichkeit, sie zu erreichen. Einfach keine Möglichkeit.“
„Am Beispiel von Faiza und Fahad erkennt man schnell die Stärke unseres Konzeptes“, sagt Lars Becker. Der Diplompä-dagoge ist Leiter der neuen Wohngruppe. „Nur weil wir gemischt sind, konnten die beiden zusammenbleiben. Wir sind auf diesem Gebiet Pioniere in Bremen.“ Die jungen Flüchtlinge können sich selbst aussuchen, ob sie in Beckers Einrichtung ziehen wollen. „Es gibt im Vorfeld immer zwei Gespräche. Nach dem ersten entscheiden die Jugendlichen, ob unser Haus etwas für sie ist. Im zweiten klären wir, ob sie zu unserem pädagogischen Konzept passen.“
Die jungen Geflüchteten sollen vor allem in ihrer Selbstständigkeit gefördert werden. Dabei wird von ihnen erwartet, dass sie konkrete Ziele für ihre Zukunft haben. „Uns kommt es darauf an, dass sie sich beruflich integrieren. Außerdem ist uns die Verwurzelung im Stadtteil wichtig“, sagt Sylvia Schikker, Sprecherin von SOS Kinderdorf. und ergänzt: „Beispielsweise kann die Anbindung an unser Zentrum in der Neustadt eine große Hilfe sein.“ Dort werde bereits ehrenamtlich Sprachunterricht für Migranten geboten. „Das kann noch ausgebaut werden.“
Aufgrund der sorgfältigen Vorauswahl rechnet Becker nicht mit größeren Konflikten in der Einrichtung. „Wir bieten keine intensivpädagogische Betreuung. Perspektivisch sollen die Jugendlichen nachts nicht mehr betreut werden“, so Becker. Bereits jetzt hätten alle Bewohner einen Schulplatz. Der Deutschunterricht soll Anfang September beginnen. Doch auch wenn eine gewisse Zielstrebigkeit erwartet werde, gehe es in der Wohngruppe nicht zuletzt darum, dass die Jugendlichen dort wieder einmal 16 Jahre alt sein dürften. „Nach der Flucht müssen sie endlich ein Gefühl der Sicherheit bekommen“, betont Becker.
Insgesamt werden in diesem Jahr etwa 1500 unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge in Bremen ankommen – so die offizielle Zahl aus dem Sozialressort. Theoretisch sollen sie nur kurz in Übergangseinrichtungen wie etwa den Zelten am Fallturm und Werdersee untergebracht werden, um anschließend in kleinen und großen Wohngruppen die ersten Schritte in ihre neue Zukunft unternehmen zu können. David Lukaßen, stellvertretender Sprecher des Sozialressorts: „Es gibt im gesamten Stadtgebiet unzählige kleinere Einrichtungen für jeweils weniger als fünf unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge. Größere Wohngruppen mit fünf bis maximal 40 jungen Menschen gibt es insgesamt 27.“
Zustande gekommen ist die Kooperation zwischen SOS Kinderdorf und Sozialressort vergleichsweise schnell. Becker: „Ich war zum ersten Mal im März in den Räumlichkeiten. Im Juli konnten wir bereits einziehen.“ Lukaßen ist zufrieden. Das SOS Kinderdorf Bremen sei ein anerkannter Träger der Jugendhilfe und habe ein sehr gutes fachliches Ansehen.
„Die Beschäftigung mit jungen Flüchtlingen ist für das SOS Kinderdorf ganz natürlich“, erläutert Sylvia Schikker. Man kehre in gewisser Weise an die Wurzeln zurück. Ursprünglich habe sich die Organisation vor allem um Waisen gekümmert. „Das trifft leider auch auf viele junge Flüchtlinge zu.“
Wie unterschiedlich die Arbeit mit jungen Geflüchteten im Vergleich zu der mit anderen Jugendlichen sei, könne man immer wieder an kleinen Dingen bemerken, so Becker: „Als Faiza und Fahad den Garten der Einrichtung zum ersten Mal sahen, haben sie sich angeschaut und waren sich einig, dass die Fläche zum Anpflanzen von Kartoffeln leider zu klein sei. So eine pragmatische Herangehensweise würde man bei deutschen Jugendlichen ganz sicher nicht als erstes beobachten.“
Und dieser Pragmatismus hört nicht bei landwirtschaftlichen Fragen auf. Fahad: „Wir werden hier toll aufgenommen, doch unser Land ist für uns das Paradies. Wenn der Krieg dort beendet ist, werden wir zurückkehren.“ Einen Beitrag dazu versucht der 16-Jährige jetzt von Bremen aus zu leisten. Seit Kurzem engagiert er sich bei Amnesty International. Sein Berufswunsch: Sozialarbeiter – bis er nach Belutschistan zurückkehren kann.