Wie nah dürfen die bremische Sozialdemokratie und ihre Repräsentanten der bremischen Wirtschaft und deren Repräsentanten stehen? Wenn es nach Carsten Sieling geht beziehungsweise nach seinem Umfeld, das ihn lenkt, muss die politische Distanz offenbar im umgekehrten Verhältnis zur geografischen stehen. Zumindest deutet alles darauf hin, dass es Bremens Bürgermeister, der Senat und die Regierungsparteien derzeit darauf anlegen, es sich gründlich mit der Handelskammer zu verscherzen.
Und es gibt nicht allzu vieles in ihrer Leistungsbilanz, das als derart durchschlagender Erfolg gewertet werden kann: Es funktioniert, die Handelskammer ist nachhaltig vergrätzt. Dabei geht es nicht nur um die Fakten, die der Senat schaffen will und die für Bremens Unternehmen handfeste Nachteile haben: vom geplanten Plus bei der Gewerbe- und der Bettensteuer bis zum zusätzlichen Feiertag.
Mehr Stimmen durch zusätzlichen Feiertag
Es geht auch um den guten Ton. Von der geplanten Steuererhöhung erfuhr die Handelskammer nach eigenem Beteuern nicht (wie bislang üblich) vorab im Zwiegespräch, sondern aus den Medien. Sieling warnte nicht vor, hörte sich nicht Einwände und Bedenken an, warb nicht für seine Entscheidung. Der kurze Weg war zu weit – jedenfalls ideologisch, jedenfalls in der Kosten-Nutzen-Rechnung des Bürgermeisters.
Denn wenn Sieling der bremischen Wirtschaft die kalte Schulter zeigt, dann nur, weil seine andere eben dafür geklopft wird. Zum einen sind da Wähler, bei denen man sich mit einem zusätzlichen Feiertag wohl mehr Stimmen erkaufen kann, als man in der Unternehmerschaft nach den vergangenen zehn Jahren Rot-Grün noch verlieren könnte.
Zum anderen ist da die Linkspartei, die man sich gewogen halten muss, wenn man sie demnächst als möglichst geschmeidigen Koalitionspartner braucht. Zum dritten ist da der Schlingerkurs der deutschen Sozialdemokratie insgesamt. Wer weiß schon noch, wo sich die SPD derzeit verortet? Parteichef Martin Schulz treibt sie auf Bundesebene nach links, um den deutschen Rechtsruck aufzuhalten.
Vorgänger gingen andere Wege
Das ist eine fragwürdige politische Gleichung, begründet sich jedoch aus Kränkung und Verwirrung. In Bremen kommt erschwerend die nackte Angst hinzu, vor Stimmen-, Posten- und Machtverlust, die Furcht vor der Vertreibung aus dem politischen Paradies namens Rathaus nach mehr als 70 Jahren.
Sielings Vorgänger gingen andere Wege, gerade in schweren Zeiten: Sozialdemokrat Wilhelm Kaisen schmiedete nach der Stunde Null über mehrere Jahre ganz bewusst Bündnisse mit den bürgerlichen Kräften der Stadt, obgleich die Mehrheitsverhältnisse andere Konstellationen zugelassen hätten. Einer seiner Erben, Henning Scherf, der noch Anfang der 1980er-Jahre in Nicaragua als Arbeitsbrigadist Kaffee pflückte, nahm gut zehn Jahre später Bremens bürgerlich-konservative Vertreter nicht nur in seine langen Arme, sondern auch in die Verantwortung.
Im Nachhinein betrachtet mag die große Koalition in Bremen die Erwartungen nicht erfüllt und die schweren Zeiten nicht so viel leichter gemacht haben. Doch sie stützte sich auf ein gemeinsames Verantwortungsgefühl, das in der bremischen Kaufmannschaft traditionell verwurzelt ist, ungeachtet der politischen Farben der Flaggen auf dem Rathaus.
Sieling ist kein Landesvater
Mäzene machen die Kulturlandschaft reicher, die Handelskammer war zu Bündnissen wie dem Ausbildungspakt bereit, nie ganz uneigennützig, nie nur eigennützig. Diese Art überparteilicher Zusammenarbeit zum Wohle Bremens beginnt die Regierung aufs Spiel zu setzen.
Scherf stellte vor fast 20 Jahren fest: „Ich habe in der großen Koalition gelernt, dass ich früher zu sehr über, statt mit Andersdenkenden geredet habe. Wir arbeiten inzwischen mit der Handelskammer in einer Weise zusammen, die mich sehr froh macht. Es ist ein Segen für die Stadt und die Gesellschaft, dass wir zueinandergefunden haben.“
Scherf mutierte vom Sozialdemokraten zum Landesvater, vom Ideologen zum Pragmatiker, wie auch Ministerpräsident Winfried Kretschmann, der Baden-Württemberg weniger durch die grüne Brille betrachtet als anderen Grünen lieb ist, oder wie weiland einer seiner Vorgänger, Erwin Teufel (CDU). Sieling ist kein Landesvater. Er will oder kann es nicht sein, und das ist das Drama seiner bisherigen Amtszeit: Einem Ideologen ist das Prinzip wichtiger als die Sache selbst; und ein Apparatschik tut sich schwer an der Spitze einer Landesregierung.