55. Kapitänstag: Carola Rackete in Bremen Ikone und Feindbild

Carola Rackete hat der Krise im Mittelmeer ein Gesicht gegeben. Nun ist die Seenotretterin zu Gast in Bremen gewesen, beim 55. Kapitänstag. Ein Abend mit einer, die beides ist: Kapitänin und Aktivistin.
06.09.2019, 18:42 Uhr
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Ikone und Feindbild
Von Nico Schnurr

Draußen am Dom ist eine Leine gespannt. Ein paar Passanten mehr als sonst halten an, machen Fotos. Die Kameras ihrer Smartphones nehmen auf, wie Rettungswesten an der Bremer Kirche herunterbaumeln. Zehn Stück sind es, aufgereiht, in leuchtendem Orange. Eine Aktion der Gemeinden, mehr als ein Dutzend machen in Bremen mit, überall Rettungswesten vor den Kirchen. Dazu Gottesdienste an diesem Sonntag, in denen sich die Pastoren für Seenotrettung aussprechen. Ein Zufall, aber passend natürlich, dass die Westen an dem Tag draußen am Dom hängen, als die Frau das Gebäude gegenüber besucht, die zum Gesicht eines europäischen Problems geworden ist.

Carola Rackete, 31, Sea-Watch-Aktivistin, ist zu Gast in Bremen. Sie soll beim 55. Kapitänstag sprechen, einer ihren ersten öffentlichen Auftritte, seitdem sie im Mittelmeer zur Ikone und zum Feindbild gleichermaßen geworden ist. Freitagabend, 18 Uhr, Obere Rathaushalle. Volle Gläser, Lackschuhklackern. Aufreihen, einmal lächeln für die Kamera. Es ist warm, die Luft riecht nach Sherry und schwerem Parfüm. Bärte, Glatzen, Krawatten. Kapitänsanzüge. Vor allem Männer, meist mittelalt, stehen um Tische herum. Schulterklopfer, Umarmungen, lange nicht gesehen, wie geht’s denn so. Dann aufgeregtes Gerede, suchende Blicke: Wo ist Carola Rackete?

Während es drinnen beim Empfang Hühnchen im Speckmantel gibt, kämpft der Ehrengast draußen kurz gegen die Klimakrise. Im Rathaus Weißweinheiterkeit, davor Protestlaune. Oben die Kapitäne, unten die Aktivisten. Rackete, irgendwie ja beides, bleibt erst einmal unten. Die Klimaaktivisten von Extinction Rebellion haben sich vor den Stadtmusikanten aufgestellt, eine kleine Gruppe, ausgerüstet mit bunten Bannern und Fahnen. Der Plan der Protestler geht auf, Rackete kommt dazu, lässt sich herzen und bekommt einen Stoffbeutel überreicht. Darin ein T-Shirt, darauf eine Sanduhr und eine Skelettversion der Stadtmusikanten. Die Botschaft: Die Zeit läuft ab. Gefällt ihr. Rackete streift sich das Shirt über. Schnell noch ein paar Bilder, danke für den Einsatz, dann muss das Shirt wieder aus. Kommt im Rathaus sicher nicht ganz so gut an, sagt Rackete, kann sie nicht bringen.

Oben warten die Fotografen, einige Kapitäne, viele Senatoren. Keiner drängelt, alles gesittet, aber man merkt, dass hier niemand ohne Bild mit Rackete raus will. Die Kapitänin scheut die Öffentlichkeit, der Personenkult nervt sie. Ob das klappt mit den Fotos? Gegen 19 Uhr dann Erleichterung: Rackete im Rathaus. Die schlanke Frau, 31, hüftlange Dreadlocks, ganz in Schwarz gekleidet, wird gleich belagert, Viertelstunde Fotomarathon. Rackete, die perfekte Projektionsfläche.

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Ein Sonntag im Juni, kurz nach Mitternacht, als eine niedersächsische Kapitänin die „Sea-Watch 3“ in den Hafen von Lampedusa lenkt und dabei ein Schiff rammt. Vor Tagen schon haben sie den Notstand ausgerufen, 40 Flüchtlinge sind an Bord, entkräftet, dem Selbstmord nahe. Kapitänin Rackete hatte sie von einem Schlauchboot geholt, knapp 50 Seemeilen vor Libyen. Doch die italienische Regierung verweigert dem Schiff die Einfahrt. Rackete, die Widerständlerin, sieht das nicht ein. Ein rechtspopulistischer Innenminister gegen eine linke Kapitänin. Die Rettungsaktion wird zur Richtungsfrage. Auf einmal geht es nicht mehr um 40 Flüchtlinge, sondern darum, was für ein Kontinent Europa sein will. Die Kapitänin auf Mission fährt den Hafen an, verlässt das Schiff als erste und wird verhaftet. Der Vorwurf: Schlepperei. Es folgen Tage im Hausarrest. Schon da ist klar: Es liegt weniger an ihr als am Zustand des Kontinents, doch Rackete ist in 17 Tagen auf See zur Symbolfigur für ein offenes Europa geworden.

Im Bremer Rathaus nimmt Rackete an einer langen Tafel Platz, neben ihr Kapitäne, Politiker. Dort sitzt sie und hört sich an, wie Andreas Bovenschulte sie eine „europäische Berühmtheit“ nennt und ihren Einsatz lobt. Bremens Bürgermeister steht hinter einem Rednerpult und sagt, er wolle nun kein juristisches Proseminar halten, keine Sorge. Rackete habe „menschlich richtig gehandelt“, betont Bovenschulte, „sie sollte uns allen ein Vorbild sein.“ Nicken, Applaus. Wer mit den Kapitänen im Saal spricht, hört ähnliche Sätze. Eine mutige Frau, gut gemacht, keine Diskussion. Manche Seemänner wundern sich über ihre Rastalocken, nicht aber über die Entscheidung, Italien anzusteuern.

Vor dem Essen herrscht kurz Schweigen. Die Kapitäne stehen auf, sie wollen an die Toten denken, „gleichgültig, ob sie Seefahrer oder Flüchtling waren, gleichgültig, woher sie kamen oder wohin sie wollten“. Die Glocke läutet, vier Doppelschläge, ein letzter Gruß. Danach ist die Stimmung ausgelassen, drei Stunden lang. Dann räuspert sich Rackete. Hinter ihr eine dunkle Holzwand, vor ihr das Pult und ein Schweinwerfer, der ihr Gesicht anleuchtet. Sie spricht mit ruhiger Stimme, besonnen, aber bestimmt. Sie sagt, Reden zu halten, das sei nicht so ihr Ding, und überhaupt: „Wie Sie sicher alle leicht erkennen können, bin ich hier etwas deplatziert.“ Einige lachen, danach nicht mehr.

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Stille, als sie das Mittelmeer „auch 2019 die tödlichste Seeroute der Welt“ nennt. Rackete sagt: „Es ist eine politische Entscheidung, diese Menschen ertrinken zu lassen.“ Auch dann noch Ruhe im Saal, als sie betont, es gebe keine Flüchtlingskrise. „Es ist eine Krise der Solidarität, der globalen Gerechtigkeit.“ Sie erinnert ans Seerecht, Artikel 98, die Pflicht zur Hilfeleistung. „Ich werde nicht darüber diskutieren, ob man Menschen in Seenot rettet.“ Dann fordert sie die Bremer Kapitäne auf, Verantwortung zu übernehmen. „Die Schiffe brauchen Fachpersonal.“ Rackete spricht 13 Minuten lang. Als sie fertig ist, erheben sich die Kapitäne. Erst einige, dann immer mehr, bis alle im Saal stehen und klatschen. So laut und lange, dass man glaubt, Rackete könnte es schon wieder zu viel sein.

Ein paar Minuten später, es ist 23.15 Uhr. Rackete verschwindet. Sie wirft sich eine Funktionsjacke und ihren Rucksack über und nimmt den Hinterausgang. Ob man ihr noch eine Frage stellen dürfe? Sie hastet aus der Tür, hin zur Limousine. „Keine Zeit“, sagt Rackete, „muss weiter.“ Ihre Mission hat gerade erst begonnen.

+++Dieser Text wurde am 8. September um 11.22 Uhr aktualisiert+++

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