Operation Stenum Wie ein Dorf-Krankenhaus Patienten aus der ganzen Welt versorgt

Ungewöhnlich genug, dass es in einem Dorf wie Stenum ein Krankenhaus gibt. Noch ungewöhnlicher sind oft die Patienten: Amish-People aus den USA, die sich an der Wirbelsäule operieren lassen.
04.04.2021, 08:31 Uhr
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Wie ein Dorf-Krankenhaus Patienten aus der ganzen Welt versorgt
Von Jürgen Hinrichs

Zwei Männer, zwei Frauen. Figuren aus einer anderen Zeit. Filmfiguren. Die Männer tragen einen langen Bart, sie haben einen Strohhut auf dem Kopf, derbe Hosen an den Beinen, Hosenträger über den Schultern, und sind mit Hemden aus Leinen bekleidet. Die Frauen verbergen ihr Haar unter Hauben, sie stecken in weit geschnittenen Trachten, die fast bis zu den Knöcheln reichen, an den Füßen schlichtes, unauffälliges Schuhwerk.

In dieser Aufmachung geht die Gruppe in den Park hinein und löst Verblüffung aus, das sind doch . . . – und, ja, es stimmt, die vier Männer und Frauen sind sogenannte Amish People aus den USA. Sie haben sich im Park Hotel einquartiert, in Bremens Fünf-Sterne-Haus am Bürgerpark. Später sitzt das Quartett an einem Tisch im Restaurant des Hotels, direkt am Fenster, noch so eine filmreife Szene. Junge Menschen, sehr gesittet, die sonst bescheiden leben und nun in Luxus schwelgen. Warum? Und weshalb gerade in Bremen?

Internationale Patienten kommen nach Stenum

Die Antwort liegt gut 20 Kilometer entfernt, in einem 1100-Seelen-Dorf. Stenum gehört zur Gemeinde Ganderkesee und ist, das kann man so sagen, in der ganzen Welt bekannt. In Indien wie in Israel, in Korea, Kuba und Kuwait, in Frankreich, Brasilien und Australien, vor allem aber in Kanada und den USA. Die Menschen, denen in Stenum geholfen wird, kommen von überall her.

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„Wir haben acht bis zehn Prozent ausländische Kunden, viele davon sind Amish People und Mennoniten“, erklärt Karsten Ritter-Lang. Der 58-Jährige ist Ärztlicher Direktor und Geschäftsführer der Stenum Ortho GmbH, einer Fachklinik für Orthopädie, die speziell mit ihren Operationen an der Wirbelsäule einen internationalen Ruf genießt. „Bei den Amish People hat sich das von Dorf zu Dorf herumgesprochen, die benutzen ja kein Internet“, sagt Ritter-Lang. Er schätzt diese Patienten: „Das sind einfache, bodenständige und herzenswarme Menschen, die als Tischler oder Farmer arbeiten und zu Hause noch mit der Pferdekutsche unterwegs sind.“

Das Krankenhaus mit gerade einmal 64 Betten und rund 1500 Operationen im Jahr, gut 600 davon an der Wirbelsäule, liegt direkt am Stenumer Holz. Der Wald grenzt an Rethorn und Schierbrok, lauter Ortschaften, die der weiten Welt Überschaubarkeit abluchsen. So wie es die Amish People in ihrer Heimat tun. Die Straßen rund um die Klinik heißen Dorfring, Am Hünengrab und Heilstättenweg. Ein paar Hundert Meter entfernt steht ein 180 Jahre altes Backhaus, in dem ab und an noch Brot gebacken wird. „Den Amish ist das alles sehr nahe, trotzdem erleben sie den Aufenthalt als Riesenabenteuer“, erzählt der Chirurg.

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Den ersten Patienten, der extra aus dem Ausland angereist kam, sahen sie in Stenum vor knapp 20 Jahren. Der Mann hatte massive Rückenprobleme, seine Wirbelsäule sollte auf Anraten der Ärzte versteift werden, doch das wollte er nicht. Dann lieber eine Methode, die in seinem Land, den USA, noch nicht angewandt wurde: künstliche Bandscheiben, die durch den Bauch eingesetzt werden. „Das muss man als Operateur beherrschen“, sagt Ritter-Lang, „es hat aber den Vorteil, dass die Menschen danach kein Handicap haben, sie können sich wieder ganz normal bewegen.“ Der Mann setzte sich mit seinem Vater, der mit nach Stenum gekommen war, nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus ins Auto und fuhr als fideler Tourist eine Woche durch ganz Deutschland. Kein Problem für ihn.

Weil der Patient über seine Reise und die medizinische Behandlung im Internet ein Tagebuch führte, machte seine Geschichte schnell die Runde. Im selben Jahr waren es in Stenum noch drei weitere Patienten aus Nordamerika. Ritter-Lang: „Wir haben schnell gemerkt, dass es ein Riesenbedürfnis gibt, auch aus finanziellen Gründen, denn als diese Art des Eingriffs endlich auch in den USA angeboten wurde, lagen die Kosten nicht selten bei mehr als 100.000 Dollar pro Operation.“ In Deutschland sei die Höhe der Honorare dagegen durch das Krankenhaustagegeldgesetz gedeckelt.

Diagnosen werden via Telemedizin gestellt

Das ganze Paket mit Flügen, Klinikaufenthalt, Reha und Unterbringung in Hotels beziffert der Ärztliche Direktor auf rund 30.000 Euro, je nachdem, wie viele Angehörige mitreisen, bei den Amish und Mennoniten seien meistens welche dabei. Die Diagnose geschehe via Telemedizin, „das kann man bei der Wirbelsäule gut machen“. Um das Organisatorische kümmere sich ein externer Dienstleister in Berlin.

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In der Regel funktioniert das so: Der Patient reist an, wird im Krankenhaus aufgenommen und dort von einer speziell geschulten und sprachgewandten Kraft eingewiesen. Seine Angehörigen steigen derweil einen kurzen Fußweg entfernt im Hotel Backenköhler ab. Während des Klinikaufenthalts ist die Familie also nahe beieinander, danach auch, wenn die Reha ansteht. Dafür wechselt die Gruppe nach Bremen zum Park Hotel. „Wir gehören dort zu den größten Kunden“, sagt Ritter-Lang. Und dann kommt es eben zu solchen Begegnungen wie die Stenumer sie schon lange kennen, auch die Kunden des Edeka-Ladens im benachbarten Schierbrok, wo die Amish gerne einkaufen. Menschen, interessant, die mit ihrem Habit und ihrem Verhalten den Blick auf eine fremde Kultur erlauben.

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